Das Blutbuchenfest
Energie in Bewegung gesetzt worden – sprach man nicht sogar von einem »Gesetz der Erhaltung der Energie«? Oder so ähnlich? Solche Kräfte gingen nicht spurlos unter. Es gab da kein Versickern. Die Leute würden an dem betreffenden Abend vor Doktor Glücks Tür stehen, und dann ginge es irgendwie los. Feste entstanden eben letztlich auch aus sich selbst. Es war Fest-Magie dabei, wenn aus einem bloß gedrängten Herumstehen dann unversehens die Fest-Flamme aufschoß und das Fest erst recht eigentlich losging. Man durfte sich in den Lauf der Dinge nicht so aufdringlich hineinmischen wollen. Die wahren Erfolge waren unplanbar.
Und die Festlokomotive hatte inzwischen Eigenfahrt aufgenommen, was niemand besser wissen konnte als Rotzoff, der einen neuen Satz Karten hatte drucken lassen. Würde der abgesetzt, kämen doppelt so viele Gäste wie mit Merzinger und Glück verabredet. Das schuf die Majestät des Notstandes, Not kennt kein Gebot, Not war der beste Regisseur, Not macht erfinderisch, und was die Not nicht schafft, das schafft der Tod, so reimte sich Rotzoff das zusammen, und da war es kein Wunder, wenn er getrost in die Zukunft sah. Und außerdem brachte ihn das Kartenverkaufen mit Menschen zusammen, die ihm zwar von fern bekannt gewesen waren, aber eben nur von fern, und in seiner gegenwärtigen Lage mußten neue Quellen erschlossen, neue Netze geknüpft, neue Fässer angezapft werden, und da war es ein Geschenk, wenn er mit einer Attraktion auftreten konnte. Er scheute sich nicht, den Charakter des Abends je nach Gegenüber schillern zu lassen. Wer wollte, konnte ein Ereignis höchster gesellschaftlicher Exklusivität oder eine exquisite Partouze von unübertroffener Schamlosigkeit oder eine Champagnerorgie oder die einzigartige Aufreiß-Gelegenheit oder ein aristokratisches Benefiz-Événement hinter der Sache vermuten. Rotzoff war ein Meister der Andeutung – man solle sich überraschen lassen, und wer nicht da sei, der könne auch nicht überrascht werden – »aber wer da ist, gewinnt!«. Er hatte ein Auge dafür entwickelt, wann seine Opfer am besten ansprechbar waren, wann bei einem Paar die Konversation erlahmte und jenes Vakuum entstand, in das man hineinstoßen konnte. Manchmal war es gut, wenn die Frau dabei war, der Mann großtun durfte mit dem selbstverständlichen Bestellen zweier Karten, die er auch gleich bar bezahlte, schwupp, war das Geld in Rotzoffs Tasche, ohne daß Merzinger das sah – so glaubte er jedenfalls, denn Merzinger nickte gelassen und welterfahren, wenn Rotzoff davon sprach, die Beträge würden überwiesen. Ich glaube, es lag für Merzinger ein eigener Reiz darin, betrogen zu werden. Er sah es mit geheimem Vergnügen, wenn jemand sich bei dem Versuch, ihn hereinzulegen, zu verstecken begann. Schuf das nicht erst die eigentliche unzerstörbare Verbindlichkeit? War Merzingers Schläfrigkeit die Ruhe des Krokodils, das wie ein faulender Baumstamm unbewegt im Uferschlamm liegt, kaum am Blinzeln der gelben Augen erkennbar, so schnell ging es vorüber, konzentriert auf ein unvorhersehbares Zuschnappen? Aber was gab es bei Rotzoff zu zermalmen? Finanziell war er ausgedörrt wie eine Schote Johannisbrot, die blieb dem gierigsten Krokodil zwischen den Zähnen hängen.
Aber auch die einsamen Männer waren zu bedenken, die aus der Bank oder der Kanzlei vor der Rückkehr nach Hause bei Merzinger vorbeisahen. Eben betrat Wereschnikow den Saal. Der Kellner trug ihm sein Tischchen wie ein Hoheitszeichen voran, aber er nahm allein daran Platz, die schöne Frau blieb heute aus. Er blickte abwesend um sich. Zu warten schien er nicht. Das Bier, das er immer trank, kam unaufgefordert. Er nahm zerstreut einen Schluck und sah in den Saal, ohne einen Menschen wahrzunehmen, so wirkte das. Rotzoff sagte sich, für Wereschnikow seien Leute, die er nicht kannte, Niemande. Das war grundsätzlich nicht falsch, aber heute war Wereschnikow in einer Verfassung, die ihn für die Niemande öffnete. Es waren gerade die Niemande, denen er noch zutraute, daß sie ein menschliches Herz in sich trügen. Mit Menschen zu sprechen, die er kannte, die in seine Verhältnisse eingeweiht waren, wäre ihm geradezu unerträglich erschienen. Er war zu Merzinger gegangen, weil er dort niemanden kannte und weil er seine Verlassenheit dort am eindringlichsten fühlen würde. Und er wollte sie fühlen, er wollte sich in ein Meer von Schwarz und Einsamkeit stürzen.
In den letzten Monaten war er ganz aufgegangen in der
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