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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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ein paar Löffel jedenfalls, wie die Kinder früher ihren Löffel Lebertran bekamen, und wenn sie von dieser Suppe ein bißchen in sich hineinschlürfte, behutsam – die Suppe mußte kochend heiß sein für sie, sie ließ sie, sonst so anspruchslos, sogar zurückgehen, um sie noch einmal richtig erhitzen zu lassen –, dann stellte ich mir vor, sie nehme eine echte Essenz, lebenspendende Tropfen zu sich. Das Lokal war in einem pauschalasiatisch-kolonialen Stil mit Deckenventilator und allerhand Bambus eingerichtet, ich hätte es ohne Winnie nie betreten, ein Ort ohne Atmosphäre, ohne Publikum, ohne Geschmack, was man so sagt, dabei war gegen das Essen wirklich nichts einzuwenden.
    Aber auf einmal trat der Ausdruck des Entsetzens auf Winnies Gesicht. Sie hatte etwas zutiefst Erschreckendes in ihrer Suppe gefunden. Und jetzt sah ich es auch: in ihrem Suppenlöffel pumpte und wand sich ein kleines Lebewesen, ein Miniaturkrake, ein fliegengroßer Oktopus, der das kochende Wasser überlebt hatte. Eine unvergeßliche panische Sekunde starrten wir auf das kräftige kleine Leben – dann löste sich das Phänomen für beide zugleich in Gelächter: Es war der Deckenventilator, der sich im Löffelrund spiegelte.
    »Ich bin mit dir eben immer auf irgendwelche Schildkröten in der Suppe vorbereitet«, das war kein Vorwurf, es klang, als sollte ich glauben, daß sie von mir stets etwas Außergewöhnliches erwartete.

Neunzehntes Kapitel
    Nur geliehen
    Darf man behaupten, daß Ivana am geistigen Zusammenbruch von Frau Beate Colisée ursächlich beteiligt war? Ärzte würden bei einer solchen Frage mit dem Kopf schütteln. Diese die ganze sichtbare Welt in sich hineinsaugende Vergeßlichkeit, diese verzweifelte und fruchtlose Hyperaktivität, diese Konzentrationsunfähigkeit gehörten zu Krankheits- und Verfallsbildern, welche die genetische Anlage mehr als hinreichend erklärt und begründet. Hinzu kamen noch die Leiden, die durch den übermäßig schweren Körper verursacht wurden, Herzschwäche, Bronchitis, Lungenemphysem, Thrombosegefahr – das Gesamtaufgebot von Menschheitsplagen vermochte auch eine bosnische Kroatin von der Willenskraft einer Ivana schwer zu überbieten.
    Da besaß ein wissenschaftlich schon gar nicht wägbares Gewicht wohl noch eher, was Frau Colisée hörte, als sie die Wohnung im ersten Stock mietete, nachdem sie sich gerade erst von ihrem Atelier zurückgezogen hatte, wahrlich noch im Besitz ihrer fünf Sinne, nur unter der Last der Jahre ächzend – Wie lange ihr schon nichts mehr eingefallen sei, seitdem sie verstanden habe, daß den beiden Jahrhunderterfindungen, den Jeans und dem Chanel-Kostüm, nichts mehr hinzuzufügen war, von ihr schon gar nicht, bevor nicht eine neue Epoche die Menschheit mit anderen Augen und einer anderen Lebensform beschenkte. Sie hielt sich für veraltet, ohne deswegen Trübsal zu blasen. Sie hatte gelacht, als ihr die Hausmeisterin in vertraulichem Plausch auf der Treppe eröffnete, was als Warnung gemeint war. In diesem Haus seien in den letzten zwanzig Jahren drei alleinstehende Frauen verrückt geworden: im ersten Stock eine sehr souveräne, elegante Dame, die begonnen habe zu glauben, die Nachbarn brächen in ihre Wohnung ein, um ihre Bettwäsche schmutzig zu machen; unterm Dach eine Sammlerin alter Zeitungen, die zum Schluß keinen Platz mehr gehabt habe, um sich ins Bett zu legen; und eine sehr würdige Witwe, die jeden verdächtigte, auf abscheuliche Weise engelhafte Kinder zu ermorden, und ihre Anklage laut rufend im Treppenhaus vortrug. Man müsse eben allein sein können, bemerkte Colisée dazu, das Alleinsein sei eine Kunst wie alle anderen auch, eine Frage des Erwachsenwerdens; nicht immer sein Schicksal an andere Leute zu delegieren, anderen die Sorge um das eigene Glück und Unglück aufzubinden. Das war wunderbar gesprochen, die nicht unintelligente Hausmeisterin hörte es mit Respekt und entschloß sich, darüber nachzudenken.
    Beate Colisées Lebensrealität sah allerdings ganz anders aus. Ihr Hofstaat wuchs von Monat zu Monat. Nur Freunde wollte sie nicht mehr empfangen. Sie fand den Umgang mit den Leuten, die sie bezahlte, bekömmlicher, von Winnie abgesehen, die sie nicht bezahlte, sondern reich beschenkte. Es hätte keine selbstlosere und dankbarere Beschenkte geben können, in dieser Beziehung hatte Frau Colisée es mit der Auswahl ihrer Umgebung vorzüglich getroffen.
    Wer eigentlich gar nicht zu ihr paßte, war nur Ivana, und beiden war das

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