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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Gedanken die kühle Porzellanhand. Die Hand war blank, da war kein Ring. War da wirklich kein Ring? Sie traute ihren Augen nicht, setzte sogar die um den Hals hängende Lesebrille auf: Tatsächlich, es gab keinen Ring. Sie war allein in der Wohnung, sie konnte niemanden herbeirufen. Sie wankte zurück zu ihrem Bett, ihrem orientalischen Kissenlager, und setzte sich. Sie dachte nach. Es war ein Grübeln, das keinen Ausweg fand. War es nicht so, daß dieser Ring immer an dieser Hand, immer im Badezimmer gewesen war? Oder täuschte sie sich? Sie täuschte sich neuerdings oft, das wurde ihr jetzt klar. Sie glaubte mit felsenfester Sicherheit, dies und jenes liege da und dort, und dann lag es gar nicht dort, obwohl sie hätte schwören können, es mit eigenen Augen dort liegen sehen zu haben. Es war, als bestünden verschiedene Arten von Wirklichkeit, die miteinander den Platz tauschen konnten. Sie versuchte sich in den gewagtesten Lösungen. War es möglich, daß es einen Ring nie gegeben hatte, daß sie bis heute in einem Traum verharrte, der sich unerklärlich und plötzlich auflöste? Kannte sie nicht das Erlebnis des jähen Erwachens aus einer Fehlvorstellung, die bis dahin unbezweifelt war? Kannte sie nicht dieses »Ach so!«, dieses Erwachen mit Staunen – dies Gefühl war ihr doch nicht unvertraut? An die Geschichte des Rings dachte sie übrigens keinen Augenblick – hätte die ihrem heißlaufenden Hirn noch einen Halt gewähren können? Aber warum stand da diese Porzellanhand im Bad, was war ihre Funktion? Sie hing mit etwas zusammen, sie war nicht von selbst aus der Kommode herausgewachsen. Lange kreisten ihre Gedanken. Sie fühlte sich schwindlig, als sei sie betrunken. Der Ring machte sie verrückt, wie sie noch niemals ein unbeseeltes Ding verrückt gemacht hatte.
    Winnie kam. Sie fand die Tante in seltsam befangener Erregung vor. Es war nicht leicht herauszufinden, was die alte Frau derart beschäftigte, denn Beate Colisée versuchte, listig zu sein. Sie sagte nicht, daß sie im Bad einen Ring vermißte, sondern fragte mit angstvollem Blick, ob dort an der Porzellanhand einmal ein Ring gewesen sei – ob Winnie sich daran erinnere? Für den Charakter von Beate Colisée ist es dabei bezeichnend, daß sie in der ganzen Ringaffaire niemanden des Diebstahls verdächtigte. Sie war wahrlich ein anderer Fall als die Frauen, die vor ihr in diesem Haus den Verstand verloren hatten. Sie hatte den ihren verloren, wie man einen Schlüssel verliert, das änderte nichts an ihrer großherzigen Wesensart. Winnie war so gleichgültig gegenüber ihrer Umgebung, daß sie sich nicht erinnern konnte, ob auf der bewußten Hand jemals ein Ring gesteckt hatte. Sie nahm die Hand jetzt überhaupt erst wahr. Winnie als Augenzeugin hätte einen Kriminalbeamten verzweifeln lassen. »Ja« oder »Nein«, das waren für Winnie die beiden kompliziertesten Wörter der deutschen Sprache.
    Aber das Schlimmste, oder besser Verhängnisvollste war noch nicht geschehen. Am nächsten Tag, einem sonnendurchfluteten Nachmittag, als Beate Colisée sich wieder in ihr Badezimmer begab, war der Ring wieder da. Er steckte genau dort, wo er immer, seit Jahrzehnten, gesteckt hatte. Und nun wurden Beate Colisée die Knie weich. Sie bedeckte die Augen mit den dicken Händen, tat sie wieder weg: Der Ring war noch da. Sie berührte ihn behutsam, als könne er wie eine überzarte Glasbläserei zerplatzen. Aber das tat er nicht, er war fest und kühl.
    Winnie war davon überzeugt, daß diese Ring-Episode Tante Beate den endgültig zerstörerischen Stoß versetzte. Es war ihr nicht mehr begreiflich zu machen, daß sie sich nicht getäuscht hatte: Ja, der Ring war jahrelang an derselben Stelle gewesen, ja, er war dann plötzlich verschwunden, ja, er war wieder zurückgekehrt. Ivana hatte ihn nicht stehlen wollen, aber sie hatte der Versuchung nicht widerstanden, den roten Stein einmal zu ihrem roten Rock zu tragen. Die Verwandten und Freunde, die anreisten, erlebten sie als reiche Frau, und das tat ihr gut. Es paßte einfach besser zu ihr, als bemitleidet zu werden, weil sie sich im Ausland durch Putzen durchschlug. In eiserner Sparsamkeit – davon hätte Stipo berichten können – hatte sich auch schon Beträchtliches angesammelt bei ihr. Sie achtete darauf, stets ein bißchen teurer zu sein als die andern Putzfrauen und setzte ihre Preise auch durch. Man glaubte ihr, daß sie besser sei, weil sie das mit solchem Stolz behauptete. Dennoch war sie rot

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