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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Augenblick, würden von der nächsten Welle wieder verschlungen und seien fort, als habe es sie nie gegeben. Und deshalb auch das Anwachsen des Egoismus. Ein großer Franzose habe es ausgesprochen, heute gelte nur noch eine Religion, ein Gedanke: Moi, moi, moi! Diese Devise rief Wereschnikow mit erhobener Stimme. Er brüllte sie geradezu in das wilde Geschnatter des Saales, ein Demosthenes, der gegen das Meeresrauschen anredete. Es sah sich auch kaum einer um, die Leute glaubten wohl, er ahme ein Schafblöken nach oder einen Möwenschrei, und Rotzoff, der nicht Französisch sprach, machte eine vielsagende Miene, als habe er verstanden und als vermute er zugleich, sein Gegenüber werde verrückt. Und wieder schrak er zusammen, denn Wereschnikow fuhr fort: »Es ist zum Verrücktwerden.«
    Es könne ihm niemand etwas vormachen. Er habe eine Hellsichtigkeit, er habe einen Blick bis ins tiefste Innere seines Gegenübers, die Mystiker nennten das die »Herzensschau«, die habe er, sie nütze ihm bloß nichts. Das war ganz richtig gesehen, und deshalb hätte Rotzoff auch unbesorgt sein dürfen. Wenn Wereschnikow wirklich etwas im Innern seiner Mitmenschen sah und erkannte, was ihm verhohlen werden sollte – vorausgesetzt, solch eine Fähigkeit gebe es –, dann konnte er daraus nichts machen, weil es ihm ja schon so unerhört schwerfiel, das, was ihm ins Gesicht gesagt wurde, auch nur flüchtig zur Kenntnis zu nehmen. Wenn er einmal zum Zuhören gezwungen war, setzte er eine Miene auf, als habe der andere einen schweren Sprachfehler oder spreche einen entlegenen bäurischen Dialekt. Diese Miene wirkte gelegentlich ziemlich arrogant, schüchterte auch ein, die Leute strengten sich an, verhaspelten sich, wurden dann schließlich wirklich verworren, Wereschnikows Diagnose, er lebe inzwischen unter lauter Wahnsinnigen, konnte sich auf brauchbares Material stützen.
    Mit welchen Menschen hatte er aber auch zu tun! Sie schwammen im Geld, waren von einem unermeßlichen Reichtum, »numidisch reich«, sagte Wereschnikow, ein Wort aus der Generation seines Vaters, Rotzoff guckte verständnislos, hätte ihm ein Hinweis auf König Jugurtha weitergeholfen? – das Geld kam ihnen aus Nasen und Ohren heraus, sie konnten es nicht bergen, aber sie waren zugleich von unvorstellbarem Egoismus umfangen, eingeschlossen im Käfig von Verarmungsängsten und Geiz, ein abstoßender Anblick, diese Resistenz gegenüber naheliegenden Vorschlägen, menschenfreundlichen, politisch sogar höchst wünschenswerten und nützlichen Projekten, mit Hilfe derer man sich Denkmäler errichten konnte – nein, nicht für ihn, er war ein bescheidener Diener der guten Sache –, Wereschnikow ließ hier aber alles im Unklaren, in den großen Kongreß über das Fundament der Menschenwürde in den Kulturen des Balkans wurde Rotzoff nicht eingeweiht, aber nicht aus Geheimnistuerei.
    Wereschnikow war in einen Erregungszustand geraten, in dem er wahrscheinlich annahm, sein Zufallsgegenüber sei über alle Pläne unterrichtet, gab es doch zur Stunde letztlich nichts Wichtigeres. Die Öffentlichkeit wartete doch nur darauf, daß etwas geschah, man mußte nur die Zeitung aufschlagen – »Wem sage ich das?« fragte er, und Rotzoff ließ sich gern einbeziehen, auch er war von einer Kleinlichkeit und Schofeligkeit umgeben, die ihm die Auswanderung nahelegte – aber wohin? Die Welt war klein geworden, es war eine Hase-und-Igel-Welt, wohin man auch kam, die Niedertracht war vorher angelangt – das mußte jetzt nicht mit Reiseerfahrungen abgestützt werden, das lag schon im Einsichtsbereich des gesunden Menschenverstands. Rotzoff hielt es aber für angebracht, hier etwas Kenntnisverratendes nachzulegen: Die gehörten alle ins Arbeitslager; mit Kette am Fußgelenk, zwölf Stunden Arbeit mit der Spitzhacke!
    Wereschnikow stutzte einen Augenblick. Sprachen sie beide über dasselbe Thema? Er entschied sich dann, Rotzoffs Einwurf als Zustimmung zu nehmen, und fuhr unbeirrt fort. »Meine Arbeit ist ja nicht ganz unbeachtlich«, unlängst sei ihm auf dem Flughafen Lord Dahrendorf begegnet und habe ihn herzlich begrüßt: »Immer nett, Sie zu sehen«, was man so sage, aber ein Mann wie Lord Dahrendorf sage das nicht zu jedermann – »immer nett«, das verrate schon eine gewisse Wertschätzung. Maruscha sei dabeigewesen, habe das alles mitbekommen, ihr seien solche Kontakte nicht an der Wiege gesungen worden. Sie könne die Bedeutung einer solchen Begegnung vermutlich kaum

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