Das Blutbuchenfest
Stimme gestellt. Der krakeelige Rotzoff verfügte plötzlich über die Diskretion eines erfahrenen Hotelportiers, dem kein Kundenwunsch Befremden erregt – dann könne er da mit Sicherheit etwas machen … Aber nein! Falsch gelegen –
Rotzoff hatte aber doch richtig verstanden?
Aber das sei doch nur ein Beispiel gewesen, etwas Befremdendes, Widerwärtiges, das aber in vielen, den meisten Menschen womöglich blühe, aber im Kasten gehalten werde, weil sonst gar kein Umgang mehr möglich sei – nur noch Abscheu würde zwischen den Menschen herrschen, wenn sie ahnten, was jeder von ihnen im geheimen tat oder sich zumindest ersehnte. Er selbst im übrigen schon längst nicht mehr – das sei vorbei, heute komme allenfalls »Madame Cinq« in Frage – er streckte die fünf Finger seiner großen, schön geformten Hand aus, es hatte etwas von einem Schwur. Noch vor zehn Jahren sei er ein anderer Mann gewesen – er erinnere sich an seinen Besuch bei einem befreundeten Ehepaar; sie bekamen Hunger, der Mann brach auf, um Pizzas zu holen, zwischen ihm und der Frau ein blitzschnelles Einverständnis, das hatte sich im Beisein des Mannes allerdings angebahnt – er habe die Frau ergriffen … »Im Stehen an die Wand genagelt! So lange, wie man eine Pizza holt, wir haben es gerade geschafft«; – die Frau sei im Bad verschwunden, als ihr Mann wiederkam, sei nachher aber noch sichtlich angegriffen gewesen, stumm hätten sie ihre Pizza gekaut, während der Mann, ein anständiger Kerl im Grunde, in seiner Ahnungslosigkeit munter erzählte – unversehens schoß ihm durch den Kopf, daß solche Heldentaten in der Erzählung ein wenig undelikat wirken können, und fügte wegwischend hinzu: »Jeder hat ja solche Erlebnisse.« Das Wort »Erlebnis« entsprach auch viel eher seinem üblichen Wortschatz. Wenn Wereschnikow über die Liebe sprach, fiel bei anderer Gelegenheit sein betont reifer, betont diskreter Stil auf: »Ein schönes Erlebnis, eine schöne Begegnung, eine bemerkenswerte Umarmung, eine wunderbare Verbindung«, aus all dem sprach Geschmack und Souveränität. Das Auspacken von harten Bettgeschichten, über solche feinen Andeutungen hinaus, war ungewöhnlich.
Rotzoff konnte das freilich nicht wissen. Er genoß ja zum ersten Mal die Ehre des Gesprächs, die Fremdheit begünstigte die Hemmungslosigkeit. Aber vielleicht bedurfte es für Wereschnikows Worterguß gar keiner begünstigenden Umstände, vielleicht hätte er den Wänden eine Rede gehalten, wenn sich niemand zu ihm gesetzt hätte. Er war, was der Trauerblick, die edle Melancholie zunächst verbargen, dann aber immer offensichtlicher werden ließen, über jedes Maß erregt. Er war, genaugenommen, außer sich.
»Sehen Sie, Maruscha ist eine außergewöhnliche Frau« – diese Phrase war Ausdruck seiner Unfähigkeit, jetzt ein einziges aufrichtiges Wort zu ihrem Lob zu sagen. Sie war auf die Einschränkung hin ausgerichtet, das große Aber – außergewöhnlich gewiß, für einen Kerl wie Rotzoff eh, unerreichbar für einen solchen Kerl – oder am Ende doch nicht? Maruscha – Rotzoff kenne sie doch? Rotzoff nickte schweigend ein wissendes Nicken, das vieles umschloß, es mochte andeuten, daß er sie auf der Galeere oder im Bordell oder bei der Bahnhofsmission kennengelernt hatte und sie im Grunde allzugut kannte. Wereschnikow nahm diese Vieldeutigkeit in seiner Überwachheit durchaus wahr, aber war zu sehr in sein Gleis gebannt, um ausbrechen und nachforschen zu können. Maruscha sei hochbegabt, vielsprachig, eine glänzende Erscheinung – gewiß –, aber andererseits doch sehr limitiert. Das Milieu, in das er sie eingeführt habe, sei ihr vorher verschlossen gewesen. Sie bewege sich darin heute noch nicht sicher, mit etwas zu ostentativer Souveränität, die ihr nicht angemessen sei, das führe auch zu Peinlichkeiten, aber gut, er trage alles, bügle alles aus, nehme alles hin – im Hinblick auf das gegenseitige Vertrauen, die erprobte gegenseitige Zuneigung –, das seien doch Werte, die werfe man doch nicht einfach weg!
Rotzoff begann zu verstehen. Es gelang ihm nur mit Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken – das bewunderte Paar, von Merzinger mit solcher Aufmerksamkeit bedient, der Schmuck von Merzingers Restaurant, es war offenbar nicht mehr weit her damit.
Wereschnikow verzichtete darauf, das Desaster beim Namen zu nennen, sondern übersprang die eigentliche Eröffnung, die Maruscha ihm vor einer Stunde gemacht hatte: Der Anstand
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