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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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richtig einschätzen, nehme sie für völlig selbstverständlich – was sie nebenbei auch sei –, aber nach welchem Einsatz, welcher Kraftanstrengung, das mache sich kaum einer klar. Rotzoff wußte, daß Maruscha die Blondine war, mit der Wereschnikow sonst auftrat. Am Ecktisch waren ihre physischen Vorzüge ausführlich verhandelt worden, auch die Frage, ob sie eher für Oral- oder für Anal-Sex begabt sei, aber jetzt war Rotzoff ganz Respekt und nickte ernst zu dem Komplex der Unbefangenheit dieser Frau vor den Großen dieser Erde. »Ist nicht unproblematisch«, sagte er in einem zart anklingenden Besinnlichkeitston, den Wereschnikow allerdings schon überhaupt nicht mehr aufnehmen konnte.
    »Mein Gott«, rief er so eindringlich und mit zur Saaldecke gewandtem Auge – war das eine unwillkürliche Erinnerung an seine vergessenen russischen Vorfahren und ihre byzantinische Liturgie? – »Freiheit der Sexualität, welch ein Wahnsinn – als könne es in der Sexualität Freiheit geben! Nichts tendiert so stark zur Ritualisierung wie die Sexualität – sie ist auf Obsession, Ritual, Zwang, Ausschaltung des Willens hin angelegt, das sind doch anthropologische Grundtatsachen.« Man müsse »seine Freiheit« haben, sagten die Leute, wenn sie meinten, daß sie ungestört herumvögeln wollten: »Freiheit in diesem Zusammenhang – lächerlich – ein absurdes Wort im Zusammenhang mit Sexualität!« Wir steckten schließlich alle in der Falle – da konnte Rotzoff nur bestätigend nicken, erstickend war seine Lage, wenn er nicht an sein Geld kam, ihm war schon geradezu, als schulde Wereschnikow ihm bereits den Betrag für mindestens zwei Billetts, auch wenn er zunächst abgewinkt hatte – es war doch einfach unstatthaft, und er würde es dem Mann auch nicht durchgehen lassen, ihn derart lang hier festzuhalten und seinem Geschwätz auszusetzen und dann nicht zu kaufen. Das wäre »Verschulden beim Vertragsabschluß«, das war einklagbar. Wer den Verkäufer derart mit Beschlag belegte, der gab damit »konkludent« zu verstehen, daß er zum Abschluß bereit war – soviel wußte Rotzoff noch aus der Werbebranche, in der ein Kampf um Kundenakquisition und Aufträge zum täglichen Brot – zum Schluß sehr hartem Schwarzbrot – gehört hatte. Wie das genau war mit der Sexualität, wieviel Freiheit oder nicht daran beteiligt war, darüber hatte er nicht nachgedacht. Wenn er wollte, dann tat er es halt, irgend jemand fand sich erfahrungsgemäß, das Problem war mehr, die Dame wieder loszuwerden. Dem sehr schönen, rührend sanften, aber ihm zu groß gewachsenen Mädchen, mit dem er gerade schlief, hatte er erklären müssen, daß es sich keine falschen Vorstellungen machen dürfe – er »brauche seine Freiheit« –, da war es ja wieder, das Wort, das Wereschnikow so in Rage brachte, auch bei Rotzoff war es in gutem Gebrauch.
    Es sei doch überhaupt kaum vorstellbar, an welch dünnem Haar unser Leben hänge, fuhr Wereschnikow fort. Wir wiegten uns in Sicherheit, präsentierten der Welt unsere Oberfläche und nähmen von unseren nächsten liebsten Menschen, unseren Lebensmenschen aber eben auch nur die Oberfläche wahr – und das sei sogar gut so, denn es gebe vermutlich kaum eine Liebe und Freundschaft mehr, wenn wir uns wirklich ins Herz schauen könnten. Wenn wir die geheimen Wünsche und Gedanken des andern lesen könnten – was ihm auf einer sehr nah an der Oberfläche gelegenen Seelenschicht oft sogar gelinge, aber freilich nicht in der Tiefe –, wen gebe es denn da, von dem wir uns nicht schaudernd abwenden würden? Wenn wir etwa wüßten, wenn wir wie die großen Wundertäter ins Innere sehen könnten bei der Unterhaltung mit einem bedeutenden, hochrespektierten und bewunderten Mann, der während des ernsthaften Gesprächs sich im geheimen danach sehnt, daß eine Mulattin ihm in den Mund pinkelt? Aber so sei es doch schließlich, so oder ähnlich, das Beispiel sei willkürlich gewählt – könnte man einen solchen Menschen dann noch ernst nehmen, befiele einen dann nicht der Ekel, wäre nicht jedes der feierlichen Worte, die er äußerte, seine Höflichkeit und Seriosität, notwendig mit Perversion durchtränkt? Würde man sich in seiner Gegenwart nicht dabei ertappen, daß man sich die Nase zuhielte, ganz unwillkürlich? Aber so doch mit allem!
    Rotzoff horchte auf. Er fand wieder eine Gelegenheit, sich ins Spiel zu bringen: Stehe Wereschnikow auf so etwas? Die Frage war mit verschleierter

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