Das Blutgericht
Meister der Verkleidung, konnte mit Schminke umgehen, als hätte er sein ganzes Leben in der Filmindustrie verbracht. Aber manchmal, das wusste er, waren es Frechheit und Selbstvertrauen, die ihm den gewünschten Erfolg verschafften, wo ansonsten die ganze Heimlichtuerei nur Verdacht erregt hätte.
Als er am Yachthafen von Baker Island ankam, tat er das mit Stil. Er sorgte dafür, dass er jedem Beobachter vorkommen musste wie ein Angehöriger der megareichen Hautevolee. Das Boot – ein Kabinenkreuzer im Wert von 2,5 Millionen Dollar – mochte nicht das Teuerste sein, das im Yachthafen vor Anker lag, aber mit Sicherheit wirkte es dort nicht fehl am Platze. Er trug feinste Seide am Leib, sein Gesicht und die Hände waren leicht gebräunt, sein Haar hatte er unter einer eleganten schwarzen Perücke versteckt. Selbst seine Augen – sein auffälligstes Erkennungsmerkmal – waren hinter getönten Kontaktlinsen verborgen. Er sah in jeder Hinsicht aus wie jemand, der auf der Insel zu Hause war. Der eigentliche Besitzer der Yacht hatte wohl nichts mehr dagegen, dass Dantalion sich seine Identität angeeignet hatte – er lag gerade mit einem Einschussloch in seinem Kopf drüben in Miami Beach.
Mit Absicht war er mit dem Boot nicht in der Nähe des Hauses der Zielperson vor Anker gegangen. Das hätte nur die Leibwächter auf ihn aufmerksam gemacht, die das Grundstück bewachten. Lieber spazierte er einfach herum, ein Mann, der nach seiner Zeit auf See erst mal wieder Gefühl für den festen Boden unter den Füßen entwickeln musste. Im Gehen zündete er sich eine Zigarre an. Eigentlich rauchte er nicht, aber das gehörte zu seiner Verkleidung. Seine freie Hand hatte er in seine Jacketttasche geschoben, wo ein Schlitz im Futter ihm jederzeit Zugang zu seiner am Oberschenkel festgeschnallten Beretta 92 mit Schalldämpfer gewährte.
Die Lichter am Hafen zogen Schwärme von Stechmücken an: Selbst Geld im Überfluss konnte nichts dagegen ausrichten, dass die Natur das letzte Wort hatte. Dantalion ignorierte die Insekten. Die Reihen von Luxusvillen vor ihm verlangten seine ganze Aufmerksamkeit. Die Gebäude wirkten pink im gelblichen Lichterschein und waren ungefähr im Halbkreis entlang der Landbiegung angeordnet, wo der Yachthafen in die Biscayne Bay überging. Rechts von Dantalion lag Dodge Island, und dahinter leuchtete das nächtliche Miami.
Das Haus, nach dem er suchte, war das ganz rechts in der Dreiergruppe, die die Halbmondform bildete. Die Häuser waren so angelegt, dass die Besitzer Aussicht und Abendsonne am besten genießen konnten, die Gärten und Swimmingpools waren zum Meer hin ausgerichtet. Die Grundstücke konnte man vom Garten her betreten, aber der Haupteingang befand sich auf der anderen Seite der Gebäude.
Die Ellenbogen auf eine niedrige Mauer mit Blick auf die Landzunge gestützt, die den drei Grundstücken ihren privaten Meerzugang verschaffte, ließ er die nächtliche Skyline der Metropole über der Biscayne Bay auf sich wirken. Eine Yacht, die mindestens zehn Millionen Dollar gekostet haben musste, schaukelte auf den Wellen. Der Anblick ließ Dantalion noch einmal das Honorar überdenken, das er für den Job verlangt hatte. Vielleicht hätte er die Summe verdoppeln sollen. Vielleicht würde er das noch tun.
Er schob die Zigarre zwischen die Lippen und sog den Rauch ein. Dann stieß er ihn betont langsam wieder aus, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, so dass sein Blick auf die Häuser gerichtet war. Seine Bewegungen waren unverdächtig genug, dass er jedem Beobachter wie ein Mann verkommen musste, der einfach mit sich selbst und der Welt im Reinen war und die Privilegien genoss, die ihm zuteilgeworden waren. In diesem kurzen Moment suchte er alle drei Balkone in den oberen Stockwerken der Häuser ab, die er sehen konnte. Das linke Gebäude schien verlassen. In Gebäude zwei gab es einen Mann, der anscheinend in einem Liegestuhl schlief. In der Villa der Zielperson brannte Licht, aber er konnte nicht erkennen, dass sich drinnen etwas bewegte.
Sein Blick wanderte zurück zum mittleren Balkon. Von dem Mann konnte er nicht viel sehen, aber er wirkte so entspannt, dass er wahrscheinlich tatsächlich schlief. Ein paar Sekunden hielt er den Blick auf ihn gerichtet, bemerkte aber keine Reaktion. Der Mann war wahrscheinlich betrunken oder schlief sich von einem langen Flug aus. Er konnte ihm immer noch einen Besuch abstatten, wenn er seine Arbeit erledigt hatte, und damit
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