Das Blutgericht
immer noch in der Hand hielt.
»Nein, jetzt eigentlich noch nicht. Hören Sie«, sagte ich, »ich wollte Sie nicht stören. Ich habe Ihre Zeit schon lange genug in Anspruch genommen.«
»Das ist schon okay«, antwortete sie. »Es ist ja nicht so, dass ich gerade etwas Wichtiges gemacht hätte. Nur so ein bisschen … nachgedacht.«
»Trotzdem habe ich Sie davon abgehalten.«
Sie winkte ab.
»Ist nicht so wichtig«, meinte sie. Aber ihre Arme wanderten wieder zurück vor ihre Brust. Ihre Körpersprache war defensiv.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Sie sah mich seltsam an. Dann öffnete sie langsam den Mund: »Nein.«
Ich nickte und sagte ihr: »Wenn mal was ist, wissen Sie, wo Sie mich finden. Sie müssen es nur sagen. Ich kann Ihnen helfen, Marianne.«
Jetzt spiegelte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht. Es war mir nicht einfach so rausgerutscht, ich hatte sie mit voller Absicht mit ihrem Geburtsnamen angesprochen, und das hatte sie bemerkt. Sie mochte in der Vergangenheit ein paar schlechte Entscheidungen getroffen haben, aber dumm war sie nicht.
»Wer sind Sie, Joe?«
Ich schaute ihr in die Augen, versuchte Ehrlichkeit auszustrahlen und versprach ihr: »Ich bin jemand, der Ihnen helfen kann.«
Marianne zögerte. Furcht blitzte in ihren Gesichtszügen auf, wurde aber sofort von etwas abgelöst, das zu sehr nach Wut aussah, als dass man es ignorieren konnte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Bevor die Situation eskalieren konnte, trat ich zurück und schwenkte wieder mein Netz. »Na ja«, sagte ich, »ich mach mich mal besser wieder an die Arbeit und lasse Sie weiter nachdenken.«
Ein Geräusch drang herüber von Jorgensons Haus. Schwere Schritte auf der gekachelten Pooleinfassung. »Mari? Sind Sie da draußen?«
Ich erkannte einen kräftig gebauten Typen im dunklen Anzug. Er hatte einen gewaltigen Bauch, der ihm über den Hosenbund lappte. Dicke Speckrollen hingen an seinen Wangen und beulten sich dort, wo sein rasierter Schädel in den Hals überging. Er sah aus wie ein aus dem Leim gegangener Schwergewichtsboxer. Er schaute kurz zu mir herüber. Dann wieder zurück zu Marianne. »Alles in Ordnung, Miss Dean?«
Mari blickte kurz zu mir, dann sagte sie. »Ja. Natürlich. Ich sage nur unserem neuen Nachbarn Hallo.«
Der fette Typ – zweifellos ein Leibwächter – schielte zu mir herüber. Ich nickte ihm einen Gruß zu, den er ohne größeren Enthusiasmus erwiderte. Zu Marianne sagte er: »Besser, Sie kommen jetzt rein, Mari. Mr. Jorgenson sucht Sie schon.«
Marianne lächelte mich noch einmal mit zusammengepressten Lippen an, dann spazierte sie zurück zum Haus. Ich konnte es nicht beschwören, aber ihr Summen kam mir nun weniger melancholisch vor als noch beim ersten Mal. Ich sah ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Der Muskelmann beobachtete mich noch ein Weilchen, dann drehte er sich um und ging nach drinnen.
Danach ließ ich mein Netz am Pool fallen, betrat das Haus und nahm meinen Platz auf dem Balkon wieder ein.
Ich war gekommen, um Marianne Dean von Jorgenson wegzuholen. Aber die Gelegenheit, die sich mir gerade geboten hatte, hatte ich ausgelassen. Logischerweise wollte ich, dass die Frau mir vertraute, wenn ich sie aus seinen Klauen entriss, und ich wusste, dass sie noch nicht so weit war. Aber es würde schon noch eine Möglichkeit geben, sagte ich mir.
Um die Zeit totzuschlagen, säuberte ich ein weiteres Mal meine Pistole. Und beobachtete das Kommen und Gehen der Boote im Yachthafen.
Ich hielt Ausschau nach Rink, aber stattdessen fiel mir etwas anderes ins Auge.
Gut, dass ich die Pistole griffbereit hatte.
7
Als Auftragskiller musste Dantalion mit einigen Einschränkungen zurechtkommen. Durch sein Aussehen, seine blasse Haut, die hellen Haare und die wässrigen Augen stach er aus jeder Menschenmenge heraus. Für jemanden, der die Anonymität über alles stellte, war es niemals gut, wenn er auffiel und sich Leute an ihn erinnern konnten. Das war auch einer der Gründe, warum er nach seinen Einsätzen selten jemanden am Leben ließ. Es konnten gar nicht so viele Engel auf der Erde wandeln, als dass er ungestraft seiner Tätigkeit nachgehen konnte, sollte jemand ihn dabei beobachtet haben.
Gerade wegen seiner Einzigartigkeit hatte er sich in allen möglichen Verschleierungstaktiken geübt. Er wusste, wie er an den verschiedensten Orten ein und aus gehen konnte, ohne dass selbst der wachsamste Beobachter etwas bemerkte. Er war ein
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