Das Blutgericht
brauchte einige Sekunden, um zu mir zu kommen und mir die wahnwitzige Flucht von Baker Island nochmal vor Augen zu führen: Wie ich mich vor Polizei und Küstenwache verdrücken musste, um nicht als Verursacher des Großbrands zur Verantwortung gezogen zu werden.
Die Nachwirkungen des vorigen Abends spürte ich in jedem Muskel, jedem Knochen. Ich streckte mich, gähnte und entschied, dass ich in die Gänge kommen musste. Ich konnte mich dem Unwohlsein ergeben oder aber versuchen, den Schmerz aus meinen müden Gliedern zu vertreiben.
Als ich wieder klar sehen konnte, überflog ich die Zeitung. Sie schrieb über die Explosion, als ginge es um einen weltenbedrohenden Meteoriteneinschlag. Spekulationen waren an der Tagesordnung. Rettungsteams suchten die Überreste ab, aber bislang waren noch keine Leichen gefunden worden. Diese Tatsache verschaffte uns etwas Luft. Ich warf die Zeitung hin und nahm den Kaffee, den Rink mir anbot.
Der Kaffee war stark, das köstliche Koffein machte sich in meinem so gut wie leeren Schädel breit. Das war genau der Kick, den ich gebraucht hatte. Meine Verletzungen waren oberflächlich, Schrammen und Kratzer, hier und da eine Prellung, aber zum Glück waren meine Knochen noch heil. Der Streifschuss an meiner Schulter tat saumäßig weh, aber es war eher eine Verbrennung denn eine offene Wunde. Die Schnittwunde an meinem Schädel musste genäht werden. Als letzte Erinnerung an die frühen Stunden dieses Morgens sah ich Rink vor mir, wie er sich mit einer Tube Sekundenkleber, einer Nadel und etwas Angelschnur an mir zu schaffen machte. Jetzt, wo ich die Wunde abtastete, musste ich konstatieren: Rink war vielleicht keine Florence Nightingale, aber die Aufnahmeprüfung an einer Näherinnenschule würde er mühelos bestehen.
Der Unterschied zwischen uns beiden war, dass ich von einer Explosion durch die Luft geschleudert und dann schmerzhaft zu Boden geworfen worden war, aber Rink schien sich nicht in viel besserer Verfassung zu befinden als ich. Er hatte dunkel verschmierte Ränder unter seinen blutunterlaufenen Augen – als ob er die ganz Nacht durch Schlüssellöcher spioniert hätte. Viel Schlaf kann er auch nicht abbekommen haben, diagnostizierte ich.
Manchmal scheint Rink meine Gedanken lesen zu können. Er nickte mir zu, ihm in sein Büro zu folgen. Das Gleißen seines Computermonitors warf ein kaltes Licht an die Wände des ansonsten abgedunkelten Raums und ließ mich die kühle Luft aus der Klimaanlage noch deutlicher spüren. Ich umfasste meine Tasse mit beiden Händen und genoss den Kaffeedampf, der mir ins Gesicht stieg.
»Ich war die ganze Nacht im Internet und habe versucht herauszufinden, wer dieser Auftragskiller ist«, erklärte er mir. Erschöpft setzte er sich hin und ließ die Schultern hängen.
»Du siehst aus, als ob du das hier ebenfalls gebrauchen könntest.« Ich hielt ihm meine Tasse hin.
»Hab schon ein paar Liter getrunken«, sagte er. Er tippte etwas ein und rief sein E-Mail-Konto auf. »Ich habe Kontakt zu ein paar Leuten aufgenommen, die sich mit diesen Dingen auskennen.«
»Und, hast du was herausgefunden?«, fragte ich. An seinen hängenden Schultern erkannte ich aber schon, dass dem nicht so war.
»Zu dem Schützen überhaupt nichts. Aber ein Typ hat mir gesagt, dass es einen ziemlichen Machtkampf im Jorgenson-Imperium geben muss. Seit Valentin verkündet hat, dass er unheilbar krank ist, versuchen sich verschiedene Leute an die Spitze zu bringen. Bradley hält die Pole-Position für die Übernahme der Geschäfte und des Vermögens, das die Familie über die Jahre angehäuft hat. Es gibt aber ein paar Zweitplatzierte, die mit dieser Situation nicht ganz glücklich sind. Sie glauben nicht, dass die Firma bei Brad in sicheren Händen ist. Anscheinend fehlt ihm ein wenig der Geschäftssinn, den sein Vater und Großvater mitbrachten.«
»Glaubst du, einer von ihnen würde so weit gehen, einen Preis auf Bradleys Kopf auszusetzen? Das ist doch ein bisschen extrem, oder?«
Vielleicht war diese Vorstellung aber auch nicht ganz so extrem. Richard Dean hatte mich auf Jorgenson angesetzt, weil der ein wenig zu freizügig mit der körperlichen Aufmerksamkeit umging, die er Deans Tochter zukommen ließ. Rechnete man jetzt noch Umsätze in Milliardenhöhe dazu, warum sollten dann nicht noch ein Dutzend Auftragskiller hinter ihm her sein?
»Die Zahl derer, die Mitglied im ›Macht-Brad-platt‹-Club sein könnten, ist ziemlich unüberschaubar«, meinte Rink.
Weitere Kostenlose Bücher