Das Blutgericht
»Anscheinend ist er einer Menge Leuten auf den Schlips getreten. Überwiegend Familienmitgliedern.«
»Und warum?«
»Wegen des Mädchens. Marianne Dean.«
»Was, weil er sie so behandelt?«
»Ja«, bestätigte Rink, »aber nicht so, wie du glaubst. Wenn es nach einigen seiner lieben Verwandten ginge, dann gehört Marianne aus seinem Leben entfernt. Sie meinen, dass sie nicht den hohen Erwartungen entspricht, die an Personen ihres Standes gestellt werden.
Er behandelt sie wie eine Prinzessin, und darüber sind sie alles andere als glücklich.«
»Ihrem Vater zufolge behandelt Bradley sie wie ein Stück Scheiße. Verprügelt sie und hält sie praktisch wie eine Gefangene. Du hast den Polizeibericht gesehen, Rink.«
»Ich habe gesehen, dass sie ein ramponiertes Gesicht hatte, aber dort stand nirgendwo, dass Bradley dafür verantwortlich war.«
»Die Zeugen. Die haben es auch abgestritten. Aber wenn du dich mal erinnerst, hinter vorgehaltener Hand hieß es, dass Bradley sie nach einer falschen Geschäftsentscheidung verprügelt hat.«
»Irgendjemand muss sie verprügelt haben, so viel steht fest.«
»Was willst du damit sagen, Rink? Dass es auch jedes andere dieser unzufriedenen Familienmitglieder gewesen sein könnte?«
»Könnte doch sein«, sagte er abweisend. Das war gar nicht seine Art. Er schloss sein E-Mail-Fenster und senkte den Blick. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, da war ich mir sicher.
»Du solltest vielleicht mal ein bisschen schlafen, Rink«, sagte ich zu ihm.
»Keine Zeit«, sagte er und hörte sich wieder ein bisschen mehr an wie der alte Rink.
»Im Moment können wir sowieso nichts tun. Wir wissen noch nicht mal, wo Jorgenson und Marianne sind, vom Killer ganz zu schweigen.« Ich stand auf und ging vor. Ich hatte gehofft, dass Rink mir folgen würde. Er tat es nicht.
»Rink?«
Er senkte den Blick. Was ist das nur immer bei Männern, dass sie nie irgendeine Schwäche zeigen wollen. Er war mein bester Freund, um Himmels willen. Sein Schmerz war mein Schmerz. Ich ging zurück zu ihm.
»Was ist denn los, Rink?«
Er hüstelte. Schon wieder so ein Männer-Ding. Seine riesigen Finger, die mühelos einen Ochsen erdrosseln konnten, zitterten über der Tastatur. Rink hatte Angst vor irgendwas. Aber ich bezweifelte, dass es etwas mit angeheuerten Killern oder dem dysfunktionalen Zustand der Familie Jorgenson zu tun hatte. Ich war dabei gewesen, als Rink früher in den Kampf gezogen war. Wie der Rest unserer Special-Forces-Einheit hatte auch er Angst gehabt. Aber er hatte – genau wie ich – die Kunst der Abschottung gelernt. Er konnte diese Furcht irgendwohin verdrängen, wo sie seine Fähigkeit zu funktionieren nicht beeinträchtigte. Genau wie der Rest von uns konnte er seine Ängste nutzen, um die letzten Reserven zu mobilisieren, um zu einem effektiveren Soldaten zu werden. Die Verschlossenheit, die Rink jetzt an den Tag legte, verunsicherte mich mehr als jede Kugel, die jemals auf mich abgefeuert wurde.
»Ich sollte nach San Francisco gehen, mein Freund«, sagte Rink.
Rinks Eltern lebten zurzeit in San Francisco. Eine unangenehme Vorahnung machte sich in meinem Magen breit. »Erzähl schon, Rink, was ist passiert?«
»Meine Mutter«, fing er an. Er schloss langsam seine Augen. Mehr musste er auch gar nicht sagen.
»Sie ist doch nicht …«
»Gestorben? Nein, noch nicht. Aber sie ist sehr krank.« Rink begann die Fenster auf dem Bildschirm zu schließen. »Ich sollte sie besuchen.«
Sofort sagte ich: »Ich komme mit.«
Rink schüttelte den Kopf und sah mich aus funkelnden Augen an. »Wir haben hier einen Job zu erledigen, Hunter. Dieses Mädchen braucht uns. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass wir sie retten können.« Dann folgte eine lange Gesprächspause, die nur von Rinks schwerem Atmen gefüllt wurde. »Für meine Mutter ist es vielleicht schon zu spät.«
12
Dantalion war auf dem Weg nach Neptune Island, ein Stück die Küste rauf. Neptune Island war keine richtige Insel, eher eine lange Landzunge, vom Festland abgetrennt durch das Marschland, das den Inter-Coastal Waterway umgab. Am nördlichen Ende führte eine Dammstraße zur Halbinsel, die so gebaut war, dass sie dauerhaft befahrbar war und von den Gezeiten unbeeinträchtigt blieb. Am südlichsten Zipfel überquerte der Coastal Highway das Marschland über eine Hängebrücke, die Wochenendnaturfreunde und Vogelbeobachter anzog, die darauf parkten, um das Tierleben im Mündungsgebiet zu beobachten.
Es war keine
Weitere Kostenlose Bücher