Das Blutgericht
er diesen Gedanken wieder. Er würde es mit Männern zu tun bekommen, die bewaffnet waren, und denen musste er zumindest auf Augenhöhe begegnen können.
Er sah im Nachttisch nach. Keine Pistole.
Er sah im Kleiderschrank nach, aber fand dort nur noch mehr karierte Hemden und Jeans. Und ein weiteres Paar hellbraune Nylonhosen. Diese waren noch in Plastikfolie eingeschweißt, als ob sie geschont werden sollten. Er nahm sie heraus und sah, dass die Beine viel länger waren als bei dem Paar, das er bei der Bügelwäsche gefunden hatte. Sie waren also noch nicht bei der Schneiderin zum Kürzen gewesen. Er hielt die Hose vor seine Beine und stellte fest, dass sie mehr als zwei Zentimeter über seinen Knöcheln endete. Wahrscheinlich würde er aussehen wie Pee-Wee Herman, aber in der Not musste das eben gehen. Er legte sie ans Fußende des Bettes. Er suchte sich eines der weniger auffälligen Hemden heraus, hellblau mit weißem Karo, und den wettergegerbten Stetson aus dem Regal legte er ebenfalls zu seinem wachsenden Klamottenstapel. Socken fand er auch. Nur die Unterwäsche des Mannes würde er im Leben nicht anfassen – dann lieber unten ohne.
Er zog das Messer aus der Brust des Mannes, wischte es am Bettlaken ab und zog die Bettdecke wieder über das Gesicht mit dem starren, zur Decke gerichteten Blick. Er nahm sich den Stapel Kleidung und machte sich auf die Suche nach einer Dusche.
Unterwegs steckte er den Kopf ins Wohnzimmer, auf der Suche nach dem, was er vorzufinden hoffte. Dort fiel ihm eine Holzkiste auf, die an der Wand stand, an der die Fotos hingen. Er knipste das Licht an, legte die Klamotten auf ein abgewetztes Sofa und ging zu der Kiste hin. Für das billige Vorhängeschloss brauchte er nur einen Schlag mit dem Radmutterschlüssel.
Erfreut bleckte er die Zähne, als er den Inhalt in Augenschein nahm.
32
Als die Dämmerung über dem Atlantik hereinbrach, machten sich Rink und Harvey auf in Richtung Nordwesten nach Tampa. Sie nahmen den Ford mit, und Marianne auch. Die beiden waren die einzigen Menschen auf der Welt, denen ich Marianne guten Gewissens anvertraute. Ich für meinen Teil hatte noch einen Job zu erledigen. Verschiedene sogar, aber alle hatten damit zu tun, Bradley Jorgenson aufzutreiben und ihn in das sichere Haus zu bringen, in dem Marianne auf ihn warten würde.
Ich nutzte die Wartezeit bis zur Lieferung meines Mietwagens, um im State Park laufen zu gehen. Eine Touristenbroschüre im Motelzimmer beschrieb, dass es mehr als sieben Kilometer Wanderwege durch die Sümpfe und Strauchhügel gab. Bis ich fertig war, würde ich mehr als das Doppelte an Distanz hinter mich gebracht haben. Ich brauchte die Bewegung. In meinem Beruf musste man sich topfit halten. Wenn es darauf ankam, war es immer der Mann mit der größten Ausdauer, der den Kampf gewann. Ich ging bis an meine Grenzen. Meine Lunge tat sich auf den ersten Kilometern etwas schwer, aber dann fand ich meinen Rhythmus, ein regelmäßiges Lauftempo, bei dem ich befreit durchatmen konnte.
Ich suchte mir einen Flecken Sand mit Ausblick auf den Ozean und legte dort einen Halt ein. Ich sah dem Sonnenaufgang zu, während ich eine Yogaübung durchführte, die man »Sonnengruß« nennt. Ich dehnte meine Muskeln, lockerte mich. Dann ließ ich mich auf den Bauch gleiten und machte zweihundert Liegestützen und die gleiche Anzahl an Kniebeugen. Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich mit einer festgelegten Bewegungsabfolge, zu der Schläge, Tritte, Ellenbogen- und Kniestöße gehörten. Es war nichts übermäßig Ausgeklügeltes, kein Karate oder Tai Chi oder so. Die Übungen, die ich machte, waren kurz und brutal und orientierten sich an einer einfachen Gleichung: minimaler Aufwand mal maximale Durchschlagskraft ist gleich verheerende Wirkung.
Verschwitzt wie ein Schwein im Schlafsack rannte ich zurück durch die Sümpfe, absolvierte den Parcours ein zweites Mal und lief dann zurück zum Motel. Dort wartete mein Mietwagen auf mich. Ich unterschrieb mit falschem Namen und zeigte dem Mann vom Autoverleih einen gefälschten Führerschein – mit Dank an Harvey Lucas.
Ich nahm die Schlüssel des Audi A8 entgegen, ging in mein Zimmer und sah sofort nach, ob meine SIG Sauer immer noch dort war, wo ich sie versteckt hatte: in einer Schachtel für Papiertücher hinter dem Fernseher.
Schweißgetränkt trat ich ins Badezimmer und ließ die Dusche an. Dann entledigte ich mich meiner feuchten Kleidung und stellte mich dankbar unter den heißen
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