Das boese Blut der Donna Luna
halsbrecherisch und wagemutig war wie die Rallye Paris-Dakar, doch vom Präsidium bis Brignole lohnte es wirklich nicht, das Auto zu nehmen, und überdies kam das Besteigen eines Wagens einem Sprung in den Backofen gleich.
Als sie den vereinbarten Treffpunkt, die hölzerne Nachbildung einer Karavelle in der Eingangshalle des Bahnhofs, erreicht hatten, mussten sie nicht lange warten. Der Zug aus Mailand war mehr als pünktlich. Während Nelly sich suchend umblickte, hörte sie jemanden fragen: »Commissario Rosso?«
Sie drehte sich um. Alessandro Palmieri war ungefähr so groß wie sie, vielleicht ein bisschen größer, um die eins achtzig, doch weil er sich gebückt hielt, wirkte er kleiner. Er war recht dünn, was den mächtigen Kopf noch größer aussehen ließ, hatte schwarzes, gewelltes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar, das er halblang trug, und einen dichten, ebenfalls schwarzen und von vereinzelten weißen Haaren durchzogenen Bart. Seine Augen waren hellbraun mit gelben Einsprengseln. Die Nase war ebenfalls kräftig. Seine Stimme war tief und sonor wie die eines Menschen, der es gewohnt ist, zu sprechen, zu überzeugen, zu überreden. Sich Gehör zu verschaffen. Er hatte sich mit seiner Frage an Marco Auteri gewandt, der ihm hastig antwortete:
»Nein, ich bin Vizekommissar Auteri. Die Signora hier ist Commissario Rosso.« Er zeigte mit galanter Geste auf seine Kollegin. Palmieri verzog keine Miene und reichte Nelly lächelnd die Hand.
»Dottoressa Rosso, ich bin Alessandro Palmieri. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Während sie ihm die Hand schüttelte und ihn in Genua willkommen hieß, befand Nelly, dass die Stärken dieses Mannes zweifellos seine Stimme und die magnetischen Augen waren, die den Effekt seines Timbres noch unterstrichen. Der Mann schien sich dessen vollauf bewusst zu sein. Marco musterte ihn skeptisch, Nelly hingegen interessiert.
»Hatten Sie eine gute Reise, Dottor Palmieri?«
»Sehr gut, danke. Wie sieht denn Ihre Planung aus?«
»Wir dachten, wir gehen zusammen einen Happen essen und danach, wenn Sie nichts dagegen haben, ins Präsidium, wo uns um drei Uhr der Polizeivize Dottor Esposito erwartet. Oder möchten Sie lieber zuerst bei sich zu Hause vorbei?«
Wie immer, wenn sie verlegen war, was sehr selten vorkam, strich sich Nelly das lockige rote Haar zurück. Die Augen des Mannes ließen nicht einen Moment von ihr ab und machten sie befangen. Als Palmieri es bemerkte, wandte er den Blick ab.
»Nein, das ist nicht nötig. Ich habe nur diese Tasche bei mir«, sagte er und zeigte auf den teuren, halbleeren Reisesack aus weichem Leder, den er über der Schulter trug. »Ich hatte Ihnen ja geschrieben, dass ich noch eine Wohnung in Albaro habe und recht oft in Genua bin. Ich betreue hier auch ein paar Patienten. Kein Problem also. Wo wollten Sie essen gehen?«
»Wenn es Ihnen recht ist, wollten wir gleich hier um die Ecke in eine friggitoria in der Via San Vincenzo gehen«, sagte Marco und sah Palmieri abwartend an. Nelly kannte ihren Vize gut und wusste, was der leicht geneigte Kopf, die halb geöffneten Lippen und der forschend auf sein Gegenüber gerichtete Blick zu bedeuten hatten. Er war misstrauisch, auf der Hut. Palmieri lächelte – ein kaum wahrnehmbares Lächeln zwischen Schnauzer und Bart und in den Katzenaugen.
»Und ob mir das recht ist, die Bratstuben fehlen mir am meisten, wenn ich nicht in Genua bin. Ich weiß genau, welche Sie meinen.«
In wenigen Minuten erreichten die beiden Männer – der eine kernig, sportlich und muskulös, mit kurzem Haar und entschiedenem Schritt, der andere gebeugt und hager, das asketische Gesicht von einer stattlichen Mähne eingerahmt – und die große rothaarige Frau die Friggitoria und setzten sich an einen der schmalen Tische an der Wand. Es gab nur wenige Sitzplätze, doch um diese Uhrzeit – es war gerade halb eins – waren noch nicht viele Gäste da, um farinata {4} , Gemüsetorten und Beilagen zu bestellen, nach denen offenbar alle drei süchtig waren. Nelly orderte einen Teller Gemüse, Marco ein großzügiges Stück Zucchinitorte und Palmieri ein Stück Farinata. Niemand bestellte Wein, Marco beschränkte sich auf ein kleines Bier, Nelly nahm eine Cola und Palmieri einen Grapefruitsaft. Sie aßen schweigend und in Gedanken versunken. Hin und wieder sahen sie von ihren Tellern auf und ließen den Blick durch das einfache, einladende Lokal wandern, in dem die von Essensdüften gesättigte, brütende
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