Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
strafbarem Tun überschritten.
Die Uhr der Kathedrale hat eben zweimal geschlagen. Ich habe heute keine Zeit mehr zum Schreiben, wenn ich meinen Termin einhalten will. Ich schäme mich für die Erleichterung, die ich empfinde. Mein Geständnis wird warten müssen, auf ein Morgen, auf einen anderen meiner geborgten Tage. Jetzt werde ich mein Tagebuch verschließen und mir ein Taxi rufen, das mich in die Klinik bringt. Ich muss wieder zu Hause sein, bevor Rowan überhaupt erfährt, dass ich weg war.
Der Arzt missbilligt meine Entscheidung, die Krankheit vor meiner Familie zu verheimlichen. Aber warum soll ich sie monatelang vorauseilende Trauer durchleiden lassen? Ich glaube nicht, dass die Kenntnis meiner Diagnose sie auf das Leben ohne mich vorbereiten würde, wie ich es in gewisser Weise – zumindest mit meinen Kindern – an jedem Tag ihres Lebens getan habe. Eine gute Mutter liebt mit Inbrunst, aber letzten Endes erzieht sie ihre Kinder dazu, ohne sie zu gedeihen. Für die Mutter müssen die Kinder das Wichtigste im Leben sein, aber wenn die Mutter es für die Kinder ist, dann hat sie versagt.
SOPHIE
ZWEI
29. Januar 2013
Es heißt, man vergesse den Schmerz, und das Überleben der Art hänge davon ab.
Am Morgen redete Sophie sich immer noch ein, es sei kein Schmerz, sondern ein Gefühl . Alles eine Frage der Wahrnehmung. Man musste es als intensives Gefühl umdeuten, als notwendigen Bestandteil des Prozesses, und dann würde es nicht wehtun. Vor dem Eingang der Klinik blieb sie stehen, atmete ein, atmete aus und ließ sich das Gefühl erleben, das ohnehin nur ein falscher Alarm war, Übungswehen vor dem Beginn des Eigentlichen, völlig normal. Einatmen, ausatmen, aufrichten, weitermachen.
Saxby Wellhouse Hospital war im Stil der viktorianischen Hochgotik erbaut: Wenig natürliches Licht gelangte durch die Spitzbogenfenster in das Atrium, das riesig war wie eine Kathedrale. Der Fliesenboden war abgenutzt von schlurfenden Füßen, deren Besitzer, Patienten und Verwandte, die Lippen bewegten wie im stillen Gebet. Eine junge Schwester in OP -Kleidung legte ihr die Hand auf den Arm und fragte: » Ist alles in Ordnung, meine Liebe? Suchen Sie die Entbindungsstation?«
Sophie schaute hinüber zu dem schimmernden weißen Korridor, der in den modernen Anbau mit den Kreißsälen führte.
» Nein danke.«
Mit bleischwerem Herzen ging sie unbeirrt weiter hinein in die dunkle Architektur, die das Gegenteil der Geburt beherbergte. Vor dem Aufzug standen Leute Schlange, aber sie traute sich auch gar nicht zu, in dieser Enge still zu stehen, nicht einmal für diese kurze Fahrt in den zweiten Stock. Die Treppenstufen waren flach, und ihre Hebamme hatte sie dazu ermuntert, aktiv zu bleiben. Sie war froh über diesen Vorwand, zu gehen, zu zappeln, die unablässige Bewegung aufrechtzuerhalten, die, wie sie manchmal glaubte, das Einzige war, das sie daran hinderte, laut zu schreien. Mit der linken Hand zog Sophie sich hinauf, die rechte lag auf ihrem Bauch. Das Geländer war alt und glatt von langer Abnutzung; nur manchmal stießen ihre Finger gegen eine Messingschraube, die irgendein Spielverderber aus dem 19.Jahrhundert in das Holz gedreht hatte, damit man nicht darauf hinunterrutschen konnte. Auf halbem Wege blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und beruhigt fühlte sie die harten Tritte, mit denen das Baby protestierte. Wenn die Wehen wirklich im Gange waren, wurden sie langsamer. In der Zeitspanne eines Lidschlags zwischen ihrem Kollaps und dem Abgleiten in diesen lebenden Tod hatte Lydia geschworen, sie werde am Leben bleiben, bis das Baby zur Welt kam. Sophie hatte es so verstanden, dass die Ankunft des Babys ihr erlauben werde zu sterben, und sie würde mit Vergnügen für alle Zeit im neunten Monat schwanger bleiben, wenn das nötig wäre, um ihre Mutter am Leben zu erhalten.
Sie ging über die blanke Terracotta-Strecke der allgemeinen Onkologie-Station hinweg und geradewegs zu dem kleinen Privatzimmer am Ende des Korridors. Rowan und die anderen waren schon da. Die Körpermaße der Verwandten stimmten nicht, sie erschienen grotesk: Lydia war in der Nacht noch weiter geschrumpft. Ihre Gestalt war ein knochiges Z unter einer Art Zellstoffdecke, wie man sie benutzen würde, um ein Baby in seinem Bettchen zuzudecken. Auch Rowan wirkte irgendwie verkleinert; sein Kopf war zu klein für den Körper, der wie gefaltet in einem Sessel saß. Tara erschien noch stattlicher als sonst und sah aus wie Felix’ Mutter,
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