Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
nicht, als sei sie nur ein Jahr älter als er. Die Aussicht auf Mutterlosigkeit hatte sich auf die beiden unterschiedlich ausgewirkt. Sie war um ein Jahrzehnt gealtert, und die Verwerfungen der mittleren Jahre hatten sich um Augen und Mund eingegraben. Felix dagegen war wieder zu dem nagelkauenden Teenager mit den großen Augen geworden, der er gewesen war. Sophie, rund wie ein Ei, aus dem bald das Leben platzen würde, ließ sich auf den harten Stuhl neben ihrer Mutter sinken. Angestrengt beugte sie sich vor und streifte Lydias Wange mit den Lippen. Der violette Bluterguss rund um die Infusionsnadel an Lydias Hand schien seit gestern noch größer geworden zu sein.
» Wie geht’s ihr, Dad?«, fragte Sophie. » Warst du die ganze Nacht hier?«
Rowan nickte.
» Weiß sie, dass wir hier sind?« Sophie spürte die Panik wie Sodbrennen in der Brust. Was wäre, wenn Lydia nicht mehr fähig wäre, richtig zu kommunizieren? Würde das bedeuten, dass sie sich schon voneinander verabschiedet hatten?
» Das wissen wir nicht«, sagte Tara. » Sie ist immer nur fünf Minuten an einem Stück wach, und dann ist sie nicht klar. Manches von dem, was sie dann von sich gibt, ist zum Piepen.«
» Es ist überhaupt nicht lustig«, fauchte Felix. » Sie war wirklich unglücklich. Und sie hat solche Schmerzen. Fast wünschte ich…«
» Sag es nicht, Fee«, unterbrach Sophie ihn. Sie hielt die Hand ihrer Mutter, wie sie es als Kind getan hatte, an ihrem Hochzeitstag, bei der Geburt ihrer Söhne, und sie drückte sie sanft. Zwar hatte sie keine Reaktion erwartet, aber sie war doch enttäuscht, als keine kam.
Alle vier blieben den ganzen Tag da, und abwechselnd eilten sie in die Cafeteria am anderen Ende des Gebäudes und holten Kaffee und Sandwiches, die Rowan ignorierte, Felix auseinanderpflückte, Sophie herunterwürgte und Tara restlos verputzte. Die anderen wollten nicht zulassen, dass Sophie auch ging; sie solle ihre Kräfte sparen, erklärten sie hartnäckig und hörten nicht zu, wenn Sophie ihnen zu erklären versuchte, sie habe überschüssige Kräfte, die sie anscheinend überhaupt nicht aufbrauchen könne. Bei ihren häufigen Ausflügen zur Toilette tätigte sie verbotene Anrufe bei Will, dessen Stimme wie Balsam war. Auch er war auf vernichtende Nachrichten gefasst, aber er war nicht blutsverwandt mit Lydia, und anders als der Rest ihres engsten Familienkreises hatte er in seinem brechenden Herzen noch Platz für sie, um ihr dort eine Stütze zu geben. Nach dem Auflegen machte sie ihrem Schmerz mit knappem, gemessenem Schluchzen Luft, mit Einheiten der Trauer, die jeweils gerade groß genug waren, um bis zur nächsten zu halten.
Als sie wieder am Krankenbett war, ordnete Sophie die sonnenuntergangsfarbenen Tulpen auf dem Nachttisch neu und hoffte, die leuchtenden Farbkleckse würden den Blick ihrer Mutter auf sich ziehen können, wenn sie sich das nächste Mal rührte. Als es Zeit wurde, die Jungen abzuholen, war Lydia immer noch nicht richtig aufgewacht, aber ihre Atmung hatte sich verändert und war schneller und flacher geworden. Sophie hatte ein großes Verlangen danach, sich auf das erbarmungswürdig geräumige Bett zu legen und ihren Bauch an Lydias Rücken zu schmiegen, aber sie hatte Angst, irgendeinen lebenswichtigen Schlauch oder Draht abzureißen. Stattdessen begnügte sie sich damit, den Kopf auf das Kissen zu legen und zu flüstern: » Ich liebe dich.« Die Kraft der Gefühle eines ganzen Lebens stand hinter diesen Worten, und doch wirkten sie ohnmächtig.
Auf dem Gang begegnete sie einer Schwester.
» Ist es heute so weit? Was meinen Sie?«, fragte Sophie. » Sie keucht, als ob sie einen Berg hinaufsteigen würde. Ist das ein Anzeichen?«
» Sie wissen doch, dass ich das nicht sagen kann«, antwortete die Schwester freundlich. » Manchmal steht es auf Messers Schneide, und dann geht es wieder gut. Aber etwas scheint sie heute aufgeregt zu haben, und sie werden oft so, kurz bevor sie versterben. Als ob sie es wüssten. In den letzten Stunden kommt dann oft eine Art Frieden. Es klingt sonderbar, aber auf seine Art kann es sehr schön sein.« Sie legte den Kopf schräg. » Aber wie geht es Ihnen ?«
» Meinen Sie mich oder das Baby?«
» Beide.« Die Schwester lächelte. » Wissen Sie schon, was es wird?«
» Ein Mädchen«, sagte Sophie.
» O wie schön. Eine Tochter«, sagte die Schwester.
Tochter. Das Wort hörte sich an wie etwas, das sie selbst war, nicht etwas, das sie bekommen würde.
» Im
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