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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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in der marmornen Pracht von Rom und Florenz, da hatte er solche Frauen gesehen,  gebannt in Stein und nicht in Eis. Vor langer Zeit  wanderte er einmal durch den Louvre und fand solche  Frauen, in sommerlichem Licht gebadet, in Farben  verewigt. Vor langer Zeit, er war damals noch ein Junge,  hatte er sich einmal in einem Kino durch die kühlen  Gänge hinter der Leinwand gezwängt und den Blick  gehoben. Turmhoch über sich hatte er auf der Leinwand  das Antlitz einer Frau erblickt, wie er noch nie eines  gesehen hatte, riesig und schön, milchweiß und  mondklar, und er war erstarrt hinter der Bühne  stehengeblieben, im Schatten der Lippen, der vogelgleich  flatternden Wimpern, übergossen von der schneeigen  Todesblässe der Wangen. 
    Aus vergangenen Jahren flossen Bilder zusammen und  fanden ihre Verkörperung da in diesem Eisblock. 
    Welche Farbe hatte ihr Haar? 
    Es schimmerte weißblond, aber es konnte jede Farbe  annehmen, wenn es vom Eise befreit war. 
    Wie groß war sie? 
    Gut möglich, daß die Lichtbrechung des Eises sie  größer oder kleiner erscheinen ließ, je nachdem, ob man  vor dem Fenster des leeren Ladens einen Schritt nach  dieser oder jener Seite machte. Samtweich pochten die  Nachtfalter ans Glas. 
    Nicht wichtig. 
    Der Blitzableiterverkäufer erbebte. Er wußte etwas  ganz Ungewöhnliches: Wenn sich ihre Lider durch ein  Wunder in dem Saphir öffnen sollten und sie ihn ansah,  dann kannte er die Farbe ihrer Augen. 
    Er kannte die Farbe ihrer Augen. 
    Wenn nun jemand den leerstehenden Laden betrat...  Wenn jemand die Hand ausstreckte, würde die Wärme das Eis schmelzen? 
    Der Blitzableiterverkäufer blieb eine Weile regungslos  stehen, dann schloß er rasch die Augen. 
    Er stieß die aufgestaute Luft aus. 
    Sie schmeckte warm wie der Sommer auf seinen  Lippen. 
    Seine Hand berührte die Tür. Sie ließ sich öffnen.  Arktischkalte Luft umwehte ihn. Er trat ein. 
    Die Tür fiel zu. 
    Helle Nachtfalter tappten gleich Schneeflocken ans  Fenster. 

Elftes Kapitel

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    Mitternacht. Von den Türmen der Stadt schlug es zwölf  und eins und zwei und dann drei. Die harten  Glockenschläge ließen den Staub von alten Spielsachen  hoch oben in den Dachspeichern auffliegen und das  Silber von noch älteren Spiegeln in anderen Speichern  abbröckeln. Sie weckten Träume von Uhren bei allen schlafenden Kindern. 
    Will hörte es. 
    Gedämpft, weit draußen in der Prärie, war das  Stampfen einer Lokomotive und das langsame Rollen des  Zuges. 
    Will setzte sich im Bett auf. 
    Auf der anderen Straßenseite setzte sich wie ein  Spiegelbild Jim in seinem Bett auf. 
    Eine Jahrmarktsorgel begann wundersam weich und  leise zu spielen, so unsagbar traurig, Millionen Meilen  entfernt. 
    Mit einem Ruck war Will aus dem Bett und beugte sich  weit aus dem Fenster – genau wie Jim drüben. Wortlos starrten sie über die Baumwipfel hinweg. 
    Ihre Zimmer lagen hoch, wie die Zimmer von echten  Jungen liegen sollen. Von ihren Fenstern aus hatten ihre  Blicke freies Schußfeld über Bibliothek und Stadthaus,  über Feuerwehrdepot, Scheunen und Farmhäuser hinweg  bis in die unendliche Weite der leeren Prärie. 
    Dort, am Ende der Welt, krochen wie glitzernde  Schlangen die Eisenbahnschienen dahin, dort reckten  sich gestikulierend grüne und rote Signale den Sternen  entgegen. Dort, am Rande der Erde, erhob sich ein  Federwölkchen wie der Vorbote eines Gewitters. 
    Glied für Glied tauchte der Zug auf: Lokomotive,  Kohlentender, viele schlafende Wagen, die dem  Funkenregen folgten, summend, grollend wie ein  Kaminfeuer im Herbst. Selbst aus dieser Entfernung  konnte man sich starke Arme vorstellen, die  meteorschwarze Kohlen in den feurigen Schlund der  Dampfmaschine schaufelten. 
    Die Lokomotive! 
    Beide Jungen verschwanden und kamen mit  Feldstechern zurück. 
    "Die Lok!" 
    "Uralt! Gibt's mindestens seit 1900 nicht mehr!" 
    "Auch der übrige Zug ist uralt!" 
    "Die Fahnen! Die Käfige! Es ist der Zirkus!" 
    Sie lauschten. Erst dachte Will seinen eigenen Atem zu  hören, aber es war der Zug, die Orgel, die leise sang und  stöhnte. 
    "Klingt wie Kirchenmusik." 
    "Hölle. Warum soll ein Zirkus Kirchenmusik spielen?" 
    "Sag nicht immer Hölle", zischte Will. 
    "Hölle." Jim beugte sich vor. "Hab's den ganzen Tag  nicht sagen dürfen. Jetzt schlafen sie alle. Hölle!" 

    Die Klänge schwebten an den Fenstern vorbei. Will 

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