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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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ihnen; ein großes Schattenungeheuer nähte sie aneinander, eine neben die andere, bis das Zelt Gestalt annahm. Endlich vernahmen sie das klatschende Geräusch der im Wind flatternden riesigen Fahnen. 
    Die Bewegung hörte auf. Dunkelheit ruhte wieder regungslos in der Dunkelheit. 
    Will lag mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Schlag der gewaltigen pechschwarzen Schwingen, als sei ein riesiger Urvogel zum Leben erwacht, hier, auf der nachtschwarzen Wiese. 
    Die Wolken flogen davon. Der Ballon war verschwunden. 
    Die Männer waren fort. 
    Der Wind ließ Wellen wie schwarzen Regen über das fertige Zelt rinnen. 
    Plötzlich erschien der Weg zurück zur Stadt unendlich weit. 
    Will blickte instinktiv über die Schulter. Nichts als Gras und leises Flüstern. 
    Langsam wandte er den Blick wieder dem schweigenden, dunklen, scheinbar leeren Zelt zu. 
    "Das gefällt mir nicht", sagte er. 
    Jim konnte seinen Blick nicht abwenden. "Ja", flüsterte er nur. "Ja!" 
    Will stand auf. Jim lag noch flach am Boden. 
    "Jim!" rief Will. 
    Jims Kopf flog herum, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er kniete und raffte sich schwankend auf. 
    Sein Körper drehte sich um, doch sein Blick war immer noch auf diese schwarzen Fahnen geheftet, die großen Banner und Transparente, die mit ungeahnten Schwingen, mit Hörnern und dämonenhaftem Grinsen sich regten. 
    Ein Vogel schrie auf. Jim erschrak. 
    Wolkenschatten jagten sie in blinder Flucht bis an den Stadtrand. Von da aus rannten die beiden Jungen von ganz allein weiter.

Dreizehntes Kapitel

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    Kalter Wind blies durch das weitgeöffnete Fenster in die Bibliothek. 
    Charles Halloway stand schon seit einer ganzen Weile hier. Nun zuckte er zusammen. 
    Unten flogen zwei Schatten die Straße entlang, Schritt um Schritt begleiteten sie ihre größeren Schatten. Leise malten sie Fußspuren in die Nachtluft. 
    "Jim!" rief der alte Mann. "Will!" 
    Doch seine Stimme klang nicht sehr laut. 
    Die Jungen rannten weiter, nach Hause. 
    Charles Halloway blickte über das Land. 
    Er war allein durch die Gänge der Bibliothek gewandelt, und sein Besen hatte ihm Dinge zugeflüstert, die kein anderer hörte; da hatte er den Zug und das disharmonische Klingen der Zirkusorgel vernommen. 
    "Drei Uhr", murmelte er. "Drei Uhr morgens..." 
    Draußen auf der Wiese wartete das Zelt, wartete der Zirkus. Sie warteten auf jemanden, der die Brandung des Grasmeeres entlangkommen sollte. Die großen Zelte blähten sich wie Blasebälge. Dann atmeten sie ganz leise eine Luft aus, die nach urtümlichen gelben Ungeheuern roch. 
    Doch nur der Mond blickte in das dunkle Loch, die tiefen Höhlen. Draußen verharrten am Karussell die Tiere der Nacht mitten im Sprung, Dahinter lagen die Tiefen des Irrgartens mit vielfältigen Trugbildern, eines überlagerte das andere, still, erhaben, silbern vom Alter, weiß vom Schnee der Zeit. Jeder Schatten am Eingang konnte Farben der Angst erzittern lassen und tief vergrabene Monde enthüllen. 
    Wenn dort ein Mensch stünde – würde er sich dann millionenmal sehen können, eine endlose Kette bis hin zur Ewigkeit? Würden ihn eine Million Abbilder anstarren, eines hinter dem anderen, eines älter als das andere? Würde er dort in feinem Staub versinken, tief drin, nicht fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt, sondern neunzig, neunundneunzig Jahre? 
    Die Spiegel stellten keine Frage. Sie gaben keine Antwort. 
    Sie standen nur einfach da wie ein riesiges arktisches Eisfeld. 
    "Drei Uhr..." 
    Charles Halloway fror. Seine Haut fühlte sich plötzlich an wie die eines Reptils. Das Blut in seinem Magen verwandelte sich in Rost. Er schmeckte die feuchte Kühle der Nacht. 
    Aber er konnte sich nicht vom Fenster abwenden. 
    Weit draußen glitzerte etwas auf der Wiese. 
    Es war der Mond, der sich in einem großen Glas spiegelte. Vielleicht wollte das Licht etwas sagen, geheimnisvoll, verschlüsselt. 
    Ich gehe hin, dachte Charles Halloway. Ich gehe nicht hin. 
    Schön ist es, dachte er weiter. Nein, es gefällt mir nicht. 
    Einen Augenblick später schlug die Tür der Bibliothek zu. Auf dem Heimweg kam er an dem leeren Schaufenster vorbei. Drin standen verlassen zwei Sägeböcke. Dazwischen eine Wasserpfütze, in der ein paar Eisstückchen schwammen. Lange blonde Haare im Eis... 
    Charles Halloway sah es, wollte es aber nicht sehen. Er wandte sich ab und ging. Bald war die Straße wieder so leer

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