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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Irrgarten." Will schluckte und starrte die grundlosen Tiefen der Spiegel an. Dort kommt man niemals auf den Grund. Das war wie ein Polarwinter, der nur darauf lauert, dich mit einem Streich zu töten. 
    Schließlich sagte er: "Miss Foley, gehen Sie da nicht hinein." Er wunderte sich über seine eigene Stimme. 
    "Warum denn nicht?" 
    Jim blickte Will gebannt an. "Ja, sag's uns. Warum nicht?" 
    "Man kann sich verirren", antwortete Will unsicher. 
    "Dann erst recht! Vielleicht läuft Robert da drin herum und findet den Ausgang nicht mehr. Wenn ich ihn beim Ohr erwische..." 
    "Man kann nie wissen." Will konnte den Blick nicht von den Millionen Meilen blinden Glases wenden. 
    "Keiner kann sagen, was da drin herumschwimmt..." 
    "Schwimmt!" Miss Foley lachte. "Du hast eine herrliche Phantasie, Will. Aber ich bin ein alter Fisch. Deshalb..." 
    "Miss Foley!" 
    Miss Foley zögerte, gab sich einen Ruck, tat einen Schritt und verschwand im Meer von Spiegeln. Sie sahen ihr nach, wie sie kleiner wurde, tiefer versank, immer tiefer, bis sie sich schließlich auflöste, grau in einem Ozean von Silber. Jim packte Wills Arm. "Was soll das?" 
    "Gott, Jim – die Spiegel sind's! Das einzige, was ich nicht leiden kann. Ich meine – die Spiegel sind das einzige, was wirklich noch so aussieht wie letzte Nacht." 
    "Junge, Junge, du warst zu lange in der Sonne!" sagte Jim verächtlich. "Das Spiegelkabinett da ist doch..." Er verstummte. Er hob die Nase in die kalte Luft, die ihnen aus den hohen Spiegeln wie aus einem Eiskeller entgegendrang. 
    "Jim? Was wolltest du sagen?" 
    Doch Jim sagte nichts. Nach einer Weile fuhr er sich mit der Hand über den Nacken. "Es tut's wirklich!" rief er leicht bestürzt aus. 
    "Was tut was?" 
    "Das Haar! Ich hab's immer wieder gelesen. In den Gruselgeschichten, da steht den Leuten dauernd das Haar zu Berge. Jetzt spür ich's auch bei mir!" 
    "Herr im Himmel, Jim – meins auch!" 
    Sie standen da und genossen die herrliche kalte Hand im Nacken. In ihrem Nacken stellten sich tatsächlich die kurzen Härchen auf. 
    Licht und Schatten verschwammen vor ihren Augen. 
    Sie erblickten Miss Foley – doppelt, vierfach, dutzendfach –, wie sie ihnen aus dem Spiegelkabinett entgegenstolperte. Sie wußten nicht, welche die richtige Miss Foley war. So winkten sie allen zu. 
    Aber keine der vielen Miss Foleys sah das Winken, keine winkte zurück. Blind tappte sie weiter. Blindlings krallte sie ihre Fingernägel ins kalte Glas. 
    "Miss Foley!" 
    Ihre Augen, weit aufgerissen wie auf einem Blitzlichtfoto, waren weiß verschleiert, die Augen einer Statue. Tief drunten im Glasmeer sagte sie etwas. Sie murmelte. Sie wimmerte. Dann schrie sie. Schrie, so laut sie konnte. Sie stieß mit dem Kopf und dem Ellbogen ans Glas, taumelte trunken wie ein Falter im Licht und hob ihre Hände wie Krallen. "Gott, o Gott! Hilfe!" jammerte sie. 
    Jim und Will stürzten vor. Sie sahen in den Spiegeln ihre eigenen, weit aufgerissenen Augen, ihre bleichen Gesichter. 
    "Hierher, Miss Foley!" Jim stieß sich die Stirn an. 
    "Hierher!" Aber wohin Will auch tastete, überall war nur kaltes Glas. 
    Eine Hand tauchte aus dem Nichts auf. Eine Frauenhand, wie bei einer Ertrinkenden hochgereckt. Sie griff nach dem letzten Strohhalm. Dieser Strohhalm war Will. Sie zog ihn mit in die Tiefe. 
    "Will!" 
    "Jim! Jim!" 
    Jim hielt ihn fest, und er hielt sie fest. So zogen sie Miss Foley aus den ständig aus den Tiefen der See heranbrandenden Wogen der Spiegel. 
    Sie traten hinaus in den Sonnenschein. 
    Miss Foley preßte eine Hand an die verletzte Wange, murmelte etwas, lachte dann rasch auf, holte tief Luft und wischte sich über die Augen. 
    "Danke, Will, Jim. Vielen, vielen Dank! Ich wäre fast ertrunken. Ich meine – Will, du hattest recht! Mein Gott, habt ihr sie gesehen? Sie ist verloren, wird da drin ertrinken, das arme Mädchen, die arme, verlorene Seele... Retten! Ja, wir müssen sie retten!" 
    "Miss Foley, au, Sie tun mir weh!" Will schob energisch ihre Faust beiseite, die noch immer seinen Arm umkrampfte. "Da drin ist doch keiner." 
    "Ich hab sie aber gesehen! Bitte! Seht doch! Rettet sie!" 
    Will sprang zum Eingang des Irrgartens und hielt inne. 
    Das Mädchen an der Kasse streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. Will kam langsam zu Miss Foley zurück. 
    "Ich kann's beschwören, Miss Foley – da ist weder vor noch nach Ihnen jemand reingegangen.

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