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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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dieser Stunde der Verzweiflung kommt ein Zug an. 
    Warum? 
    "Charlie?" 
    Die Hand seiner Frau berührt die seine. 
    "Du – Charlie – alles in Ordnung?" 
    Sie schläft schon wieder. 
    Er schweigt. 
    Er kann ihre Frage einfach nicht beantworten. 

Fünfzehntes Kapitel

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    Die Sonne ging gelb wie eine Zitrone auf. 
    Der Himmel erstrahlte rund und blau. 
    Die Vögel trällerten wasserhelle Melodien in die Luft. 
    Will und Jim beugten sich aus ihren Fenstern. 
    Nichts hatte sich verändert. 
    Bis auf den Blick in Jims Augen. 
    "Letzte Nacht...", begann Will. "War es wirklich oder nicht?" 
    Beide blickten auf die fernen Wiesen hinaus. 
    Die Luft roch süß wie Sirup. Nirgends Schatten, nicht einmal unter den Bäumen. 
    "Sechs Minuten!" rief Jim. 
    "Fünf!" 
    Vier Minuten später schwappte das hastig hinuntergeschlungene Frühstück in ihren Mägen. Sie rannten zur Stadt hinaus, zertraten braune Blätter unter ihren Sohlen zu Staub. 
    Rasch atmend hoben sie den Blick vom Boden, den sie zertrampelten. 
    Da war er – der Zirkus! 
    "He..." 
    Jetzt waren die Zelte gelb wie die Sonne, messingfarben wie die Weizenfelder vor wenigen Wochen. Fahnen und Transparente, farbig wie Buntspechte, knatterten über den löwenfarbenen Zelten. 
    Von den bonbonbunt gestrichenen Buden ging ein herrlicher Samstaggeruch aus, nach Schinken und Eiern, Würstchen und Pfannkuchen. Überall rannten Jungen hin und her. Überall folgten ihnen verschlafen die Väter. 
    "Ein ganz simpler alter Zirkus!" stellte Will fest. 
    "Quatsch! Wir waren letzte Nacht doch nicht blind!" 
    Sie marschierten hundert Schritte geradeaus, genau in den Mittelgang des Zirkus hinein. Je tiefer sie vordrangen, um so klarer wurde ihnen, daß sie hier keine nächtlichen Gestalten finden würden, keinen leise tappenden Ballonschatten, unter dem sich fremdartige Zelte wie Gewitterwolken drohend blähten. Aus der Nähe sah der Zirkus nur nach zerschlissenen Tauen, nach vermotteter Zeltleinwand, nach regenverwaschenem, ausgebleichtem Gewebe aus. Die Schilder, auf denen die Attraktionen angekündigt wurden, hingen wie müde Albatrosse an ihren Pfählen und ließen ab und zu Flocken uralter Farbe abbröckeln. Zitternd gaben sie die entzauberten Wunder eines zu dünn geratenen Mannes, eines Dicken, eines spitzköpfigen Tätowierten, einer Hulatänzerin preis... 
    Sie strichen weiter durch Zelte und Buden, entdeckten aber keine geheimnisvollen mitternachtsschwarzen Kugeln voller Giftgas, mit einem orientalischen Geheimknoten an den in die Erde gestoßenen Dolch gefesselt, keine rasenden Wilden, die Eintrittskarten kontrollierten und dabei auf finstere Rache sannen. Die Zirkusorgel neben der Kasse gab weder Todesschreie von sich, noch summte sie idiotische Melodien vor sich hin. 
    Der Zug? Der stand auf einem Abstellgleis im sonnenwarmen Gras. Alt sah er aus, zusammengehalten vom Rost, wie ein riesiger Magnet, der aus den Lokomotivfriedhöfen dreier Kontinente alte Kurbelstangen, Schwungräder, Ofenrohre und gebrauchte, minderwertige Alpträume angezogen hatte. 
    Das war keine schwarze, drohende Silhouette. Der Zug bettelte um die Erlaubnis, sich tot ins herbstliche Heu sinken zu lassen, so müde war er davon, ewig Dampf und rostige Eisenspäne in die Luft blasen zu müssen. 
    "Jim! Will!" 
    Miss Foley, die Lehrerin ihrer 7. Klasse, kam lächelnd auf die beiden zu. 
    "Na, ihr beiden?" fragte sie. "Stimmt etwas nicht? Ihr seht aus, als hättet ihr etwas verloren." 
    "Na ja", antwortete Will. "Haben Sie auch letzte Nacht die Zirkusorgel gehört?" 
    "Zirkusorgel? Nein." 
    "Warum sind Sie dann so früh hier, Miss Foley?" fragte Jim. 
    "Ich liebe eben den Zirkus." Miss Foley, eine kleine Frau, die sich in ihren grauen Fünfzigern verloren hatte, sah sich strahlend um. "Ich kauf euch Würstchen, dann suche ich meinen dummen kleinen Neffen. Habt ihr ihn irgendwo gesehen?" 
    "Ihren Neffen?" 
    "Robert. Er wohnt für ein paar Wochen bei mir. Sein Vater ist tot, die Mutter liegt im Krankenhaus. Da hab ich ihn zu mir genommen. Er ist schon früh hier herausgelaufen, wir wollten uns treffen. Aber wie Jungen nun einmal sind... Gott, ihr seht aber traurig aus!" Sie schob ihnen Würstchen zu. "Laßt es euch schmecken! Lacht! In zehn Minuten machen die Karussells auf. Vorher will ich mir einmal das Spiegelkabinett anschauen..." 
    "Nein", sagte Will. 
    "Wieso nein?" fragte Miss Foley. 
    "Nicht den

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