Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
schüttelte den Kopf. "Ist schon wieder weg. War vielleicht gar nichts. Komm!"
    Sie stießen die Tür auf und traten ein.
    Dann blieben sie stehen.
    Die Tiefen der Bibliothek lagen wartend vor ihnen.
    Draußen in der Welt ereignete sich nicht viel. Doch hier, an diesem sonderbaren Abend, in einem aus Papier und Lederrücken aufgemauerten Land, da war alles möglich. Alles geschah hier. Hör nur! Zehntausend Menschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, daß nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schleppten Kanonen, schärften Guillotinen; Chinesen marschierten bis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos – doch Jim und Will besaßen die Gabe des Gehörs, des Geruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eine Fabrik für Gewürze aus fernen Ländern. Hier schlummerten fremdartige Wüsteneien. Ganz vorn stand der Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss die entliehenen Bücher eintrug, doch dahinter lagen Tibet, die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, die andere Bibliothekarin, durch die Äußere Mongolei und trug schweigend Brocken von Peking und Yokohama und Celebes auf dem Arm. Weit unten hinter der dritten Regalreihe raschelte im Düstern der Besen eines alternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten Gewürze zusammen.
    Will riß die Augen auf.
    Es war immer wieder eine neue Überraschung für ihn – der alte Mann, seine Arbeit, sein Name.
    Das ist Charles William Halloway, dachte Will; nicht mein Großvater, nicht ein alter, entfernter Onkel, wie manche glaubten, sondern mein Vater.
    Erschrak Vater beim Anblick seines Sohnes, der sich in diese unergründliche Tiefe wagte? Dad machte immer ein betroffenes Gesicht, wenn Will plötzlich vor ihm stand, als hätten sie sich ein Leben lang nicht gesehen, als sei der eine inzwischen alt geworden und der andere jung geblieben. Stand diese Tatsache zwischen ihnen?
    Der alte Mann lächelte.
    Vorsichtig näherten sie sich einander.
    "Du, Will? Bist seit heute morgen einen ganzen Zoll gewachsen." Charles Halloway sah an seinem Sohn vorbei. "Jim? Schon wieder dunklere Augen, blassere Wangen. Wie eine Kerze, die von beiden Seiten her verbrennt, wie?"
    "Hölle", sagte Jim.
    "Findest du unter ›A‹ wie Alighieri."
    "Von Allegorie halt ich nicht viel", sagte Jim.
    Dad lachte. "Wie dumm von mir! Ich meine natürlich Dante. Sieh dir das an. Bilder von Dore. Zeigen alles, was es in der Hölle zu sehen gibt. Seelen, die bis an den Hals im Schlamm versinken. Einer hängt verkehrt herum, einem haben sie das Innerste nach außen gekehrt."
    "Sackzement", sagte Jim und betrachtete die Seite von oben und von unten. Dann blätterte er weiter. "Keine Bilder von Dinosauriern?"
    Dad schüttelte den Kopf.
    "Drüben in der nächsten Reihe." Er schlenderte hinüber und griff ins Regal. "Da haben wir's: Pterodaktylus, der Todesfalke! Oder wie wär's mit Trommeln des Untergangs, die Sage von den Donnerechsen? Nichts für dich, Jim?"
    "Brauch ich nicht."
    Dad blinzelte Will zu. Will blinzelte zurück. Da standen sie nun, ein Junge mit maisfarbenem Haar, ein Mann mit mondweißem Haar, der Junge mit einem Gesicht wie ein Sommerapfel – der Alte mit dem eines Winterapfels. Dad, Dad, dachte Will, er sieht aus wie – wie ich in einem zersplitterten Spiegel!
    Plötzlich mußte Will an die Nächte denken, wenn er um zwei Uhr auf die Toilette mußte und über die Häuser der Stadt hinwegblickte zu dem einsamen Licht im obersten Fenster der Bibliothek und wußte, Dad war wieder einmal länger dageblieben und las mutterseelenallein im grünen Lampendschungel. Der Anblick dieses Lichtscheins stimmte Will traurig. Es stimmte Will traurig und komisch, dieses Licht zu sehen und zu wissen, daß dieser alte Mann – er veränderte schnell das Wort – in all diesem Schatten war.
    "Will", sagte der alte Mann, der Hausmeister, der zufällig sein Vater war. "Will, und du?"
    "Wie?" Will schüttelte sich.
    "Weiße Hüte oder schwarze Hüte?"
    "Hüte?" fragte Will.
    Sie gingen weiter. Dad strich mit dem Finger über die Buchrücken und erklärte: "Jim trägt große schwarze Hüte und liest die entsprechenden Bücher. Bald wird er hier von Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen – weicher Filzhut, dunkel. Oder auch zu Dr. Faustus – extragroßer schwarzer Zauberhut. Für dich, Will, sind die weißen Hüte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und dann, auf der nächsten Stufe – vielleicht Buddha."
    "Mir egal", sagte Will. "Ich nehme die Geheimnisvolle Insel."
    "Was

Weitere Kostenlose Bücher