Das Böse kommt auf leisen Sohlen
aus elektrischem Strom, den Jim erst noch anprobieren mußte.
Jim! Will hätte ihm am liebsten das verdammte Fenster eingeworfen. Nagel den Blitzableiter wieder an! Noch vor dem Morgen, Jim, wird der Zirkus jemanden ausschicken, der stellt fest, wo wir wohnen, und wir wissen nicht, auf welchem Weg sie kommen und wie sie aussehen. Aber, Herr im Himmel, dein Dach ist so leer!
Die Wolken treiben schnell dahin, das Gewitter überfällt uns, und dann...
Will hielt inne.
Was für ein Geräusch macht ein treibender Ballon? Keines.
Nein, ganz stimmte das auch nicht. Aus sich selbst heraus macht er ein Geräusch, er seufzt wie der Wind, der deine Gardinen bläht, weiß wie der Atem des Schaums. Oder er macht ein Geräusch wie die Sterne, die sich in deinem Traum drehen. Vielleicht kündigt er sich auch an wie Mondaufgang und Monduntergang. Ja, das ist am besten: Wie der Mond über die Tiefen des Alls segelt, so treibt ein Ballon dahin.
Wie hört man ihn? Wie wird man gewarnt? Vernimmt das Ohr ihn? Nein. Aber die kleinen Härchen im Nacken, der pfirsichfeine Flaum im Ohr, die nehmen ihn wahr, und die Haare am Arm singen eine fremdartige Musik wie zitternde Heuschreckenbeine. Du weißt es also, du bist ganz sicher, du fühlst es, liegst im Bett und weißt, daß ein Ballon in den himmlischen Ozean eintaucht.
Will spürte Bewegung in Jims Haus. Auch Jim mit seinen feinen Sinnen muß gemerkt haben, wie die Wasser sich hoch über der Stadt teilten, um Leviathan durchzulassen.
Beide Jungen fühlten den mächtigen Schatten auf dem Weg zwischen ihren Häusern, beide stießen ihre Fenster auf, beide schoben die Köpfe heraus, beiden blieb der Mund offenstehen angesichts der gewohnten, freundschaftlichen Gleichzeitigkeit, dieser köstlichen Pantomime der Intuition, des Erspürens. Alles, was sie in diesen Jahren taten, war wie bei einem Tandem aufeinander abgestimmt. Dann blickten beide mit silbrig schimmernden Gesichtern – der Mond ging auf – nach oben.
Ein Ballon schwebte vorbei und verschwand.
"Heiliger Strohsack, was hat denn ein Ballon hier zu suchen?" fragte Jim, ohne eine Antwort zu erwarten.
Denn sie wußten beide, daß ein Ballon zum Suchen am besten war: kein Motorengeräusch, keine quietschenden Reifen auf dem Asphalt, keine Schritte auf der menschenleeren Straße, nur der Wind, der eine mächtige Schneise in die Wolken schlug, Platz machte für den Weidenkorb, das Sturmsegel.
Weder Jim noch Will schlugen das Fenster zu. Sie zogen die Jalousie nicht herunter, sie mußten einfach regungslos dastehen, warten, denn sie hörten das Geräusch wieder. Es war wie ein Murmeln aus dem Traum eines anderen Menschen...
Die Temperatur sank um vierzig Grad.
Denn nun flüsterte, raunte der sturmgebleichte Ballon, sank federweich herab, kühlte mit seinem elefantengroßen Schatten glitzernde Gräser und Sonnenuhren, die ihren Blick rasch zu dem Schatten erhoben.
Sie sahen etwas Seltsames, das sich im herunterhängenden Weidenkorb bewegte. War das ein Kopf? Waren es Schultern? Ja, und der Mond stand wie ein silberner Mantel dahinter. Mr. Dark, dachte Will. Der Zermalmer, dachte Jim. Die Warze, dachte Will. Das Skelett! Der Lavaschlürfer! Der Henker! Monsieur Guillotine!
Nein.
Die Staubhexe.
Die Hexe, die Schädel und Knochen in den Staub malen und sie dann wegniesen konnte.
Jim blickte zu Will herüber. Will zu Jim. Beide lasen es von den Lippen des anderen ab: die Hexe!
Aber warum schickten sie nachts in einem Ballon ein wächsernes altes Weib auf die Suche, dachte Will.
Warum kam nicht einer der anderen, mit ihrem Reptiliengift, Wolfsfeuer, Schlangenblick in den Augen? Warum eine bröckelnde Statue mit blinden Augen, mit spinnenfädenzugenähten Lidern?
Und dann sahen sie empor und wußten es.
Die Hexe, seltsam aus Wachs geformt, lebte ein seltsames Leben. Blind war sie, aber sie streckte rostfleckige Finger aus, mit denen sie Windbrocken streichelte, liebkoste, mit denen sie den Wind zerteilen, Schalen vom Raum ablösen, Sterne verdunkeln konnte, bis sie waberten und tanzten und dann wieder scharf in den Raum stachen wie ihre spitze Nase.
Aber die Jungen wußten noch mehr.
Sie wußten, daß sie blind war, aber blind auf besondere Weise. Sie konnte die Hände niedersenken und die Buckel der Welt abtasten, Hausdächer berühren, Dachfenster befühlen, Staub aufrühren und Zugluft beschnuppern,
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