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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Jungen aus dem Mundwinkel lief. 
    Sie sahen nicht, wie hell und klar der Blick des zweiten "wächsernen" Jungen war, wie ihm plötzlich die Tränen in die Augen schossen und über die Wangen liefen. 
    Draußen humpelte die Hexe durch die schmalen Gänge zwischen gespannten Seilen hinter den Buden und Zelten. 
    "Damen und Herren!" 
    Die letzten Besucher des Abends, etwa drei-bis vierhundert, drehten sich gleichzeitig herum. 
    Vor ihnen reckte sich der Illustrierte Mann, nackt bis an den Gürtel, voll unheimlicher Vipern, Säbeltiger, schrecklicher Affen, schauriges Gezücht vor lachsfarbenschwefelgelbem Himmel. 
    "Zum letzten Mal an diesem Abend gratis! Kommen Sie näher! Treten Sie alle näher!" 
    Die Menge drängte sich um das große Podium vor dem Zelt der Mißgeburten. Dort standen der Zwerg, das Skelett und Mr. Dark. 
    "Damen und Herren! Der großartigste, einmaligste, gefährlichste, oft verhängnisvolle weltberühmte Kugeltrick!" 
    Die Menge sperrte vor Vergnügen die Mäuler auf. 
    "Bitte, die Gewehre!" 
    Der Dünne schob einen Ständer mit Schießeisen heran. 
    Die Hexe eilte herbei und blieb stocksteif stehen, als Mr. Dark ausrief: 
    "Und hier unsere todesmutige Mademoiselle Tarot. Sie fängt die Kugeln auf, sie setzt ihr Leben aufs Spiel!" 
    Die Hexe schüttelte den Kopf und erschrak, aber Mr. Dark packte sie und hob sie leicht wie ein Kind auf das Podium. Sie protestierte immer noch. Mr. Dark zögerte zwar, aber angesichts der Menge konnte er nicht mehr zurück und rief: 
    "Bitte, ein Freiwilliger, der das Gewehr abfeuert!" 
    Leises Raunen stieg aus der Menge auf. Man machte sich gegenseitig Mut. 
    Mr. Dark bewegte kaum die Lippen und fragte leise: "Ist die Uhr stehengeblieben?" 
    "Nein", wimmerte sie. "Nicht stehengeblieben." 
    "Nein?" Fast hätte er geschrien. 
    Er versengte sie mit seinem Blick, dann wandte er sich wieder den Zuschauern zu. Seine Lippen bewegten sich im gewohnten Rhythmus, seine Finger glitten über die Gewehre. 
    "Freiwillige vor!" 
    "Bitte, aufhören!" flehte die Hexe händeringend. 
    "Es geht weiter! Zur Hölle mit dir! Zweimal zur Hölle!" flüsterte er ihr mit wütendem Zischen zu. 
    Insgeheim zwickte sich Dark ins Handgelenk, an der Stelle, wo die Zeichnung einer stockblinden Frau eintätowiert war. Das Bild kniff er mit den Fingernägeln. 
    Die Hexe schnappte nach Luft, griff sich an die Brust und stöhnte. Sie knirschte mit den Zähnen. "Erbarmen!" jammerte sie halblaut. 
    Die Menge verharrte schweigend. 
    Ein rasches Nicken von Mr. Dark. 
    "Da sich keine Freiwilligen melden..." Er kratzte sich am tätowierten Handgelenk. Die Hexe erschauderte. 
    "Also streichen wir den letzten Akt der Vorstellung und..." 
    "Hier! Ich melde mich freiwillig." 
    Köpfe wandten sich. 
    Mr. Dark zuckte zurück, dann fragte er: "Wo?" 
    "Hier!" 
    Weit draußen am Rand der Menge hob sich eine Hand. 
    Die Menschen bildeten eine Gasse. 
    Mr. Dark konnte den Mann klar erkennen, der jetzt dort stand, allein, getrennt von den anderen. 
    Charles Halloway, Bürger, Vater, nach innen gekehrter Ehemann, Nachtwandler, Hausmeister der städtischen Bibliothek. 

Siebenundvierzigstes Kapitel 

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    Das beifällige Gemurmel der Menge legte sich. 
    Charles Halloway rührte sich nicht. Er wartete, bis die Gasse sich hin zur Bühne geöffnet hatte. 
    Er konnte den Gesichtsausdruck der Mißgeburten dort oben nicht sehen. Sein Blick schweifte über die Menge hin und blieb am Spiegelkabinett hängen, diesem leeren Vergessen, das mit zehnmal tausend Millionen Lichtjahren von Spiegelungen und Rückspiegelungen lockte, alles umdrehte und wieder umdrehte, in die Tiefe des Nichts führte, ins Leere stürzen ließ, sinken, bis der Magen revoltierte. 
    Aber war da nicht ein Echo zweier Jungen im Silberbelag einer jeden Spiegelscheibe? Spürte er es oder spürte er es nicht – vielleicht mit den Wimpern, wenn schon nicht mit den Augen –, ihr Hindurchschreiten, das Warten dahinter, warmes Wachs in der Kälte, das Warten, bis sie vom Entsetzen wie ein Spielzeug aufgezogen wurden, bis die Panik sich Bahn brach? 
    Nein, sagte sich Charles Halloway, nicht denken. Bring es hinter dich. 
    "Ich komme!" rief er... 
    "Gib's ihnen, Opa", sagte ein Mann. 
    "Ja", antwortete Charles Halloway, "das hab ich auch vor." 
    Dann schritt er durch die Menge. 
    Als der Freiwillige, der Nachtwanderer, näher kam, drehte sich die Hexe langsam

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