Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
aus einem harten, stahlfarbenen Wachs bestand. Wenn man sie abschoß, dann verflüchtigte sie sich vor dem Flintenlauf in einem Dampfwölkchen. Der Illustrierte Mann hatte geschickt die Kugeln ausgetauscht und legte der zitternden Staubhexe genau in diesem Augenblick die echte Bleikugel in die Hand. Sie mußte die Kugel in der Wange verstecken. Beim Knall des Schusses hatte sie wie unter einem Aufprall zu schwanken und dann die angeblich mit ihren gelben Rattenzähnen aufgefangene Kugel vorzuzeigen. Tusch! Applaus! 
    Der Illustrierte Mann sah Charles Halloway mit geöffnetem Flintenschloß, mit der Wachskugel, dastehen. 
    Doch Halloway verriet nicht, was er wußte, sondern sagte nur: "Ritzen wir unser Zeichen lieber etwas deutlicher ein, meinen Sie nicht auch?" Wieder hielt der Junge die Kugel in seiner gefühllosen Hand. Und wieder ritzte Charles Halloway mit dem Taschenmesser denselben geheimnisvollen aufgehenden Mond in das glatte Wachs. Dann schob er die Kugel wieder in den Lauf. 
    "Fertig?!" 
    Mr. Dark sah die Hexe an. 
    Die zögerte, dann nickte sie matt. 
    "Fertig!" verkündete Charles Halloway. 
    Er war rings umgeben von den Zelten, der atmenden Menschenmenge, den besorgten Mißgeburten, einer vor Panik erstarrten Hexe, dem versteckten Jim, der noch gefunden werden mußte, einer uralten Mumie, die immer noch, blaues Feuer spuckend, auf dem elektrischen Stuhl angeschnallt dasaß, einem Karussell, das nur darauf wartete, bis die Vorstellung zu Ende war, die Leute gingen und der Zirkus mit den Jungen und dem alten Hausmeister fertig werden konnte. 
    Charles Halloway hob die plötzlich sehr schwere Flinte an die Wange und sagte im Plauderton zu seinem Sohn: 
    "Will, ich stütze mich hier auf deine Schulter. Heb den Lauf ganz vorsichtig in der Mitte an. Mit einer Hand. 
    Hier, nimm schon, Will." Der Junge hob die Hand. "Gut so, mein Sohn. Wenn ich ›Achtung!‹ sage, dann halt den Atem an. Verstehst du mich?" 
    Der Kopf des Jungen erbebte in einer kaum merklichen Bestätigung. Er schlief. Er träumte. Es war ein Alptraum. 
    Und in seinem Alptraum geschah das. 
    Zuerst hörte er seinen Vater rufen: "Damen! Herren!" 
    Der Illustrierte Mann ballte die Faust. In der Faust zermalmte er Wills Abbild wie eine trockene Blume. 
    Will wand sich. 
    Der Lauf senkte sich. 
    Charles Halloway tat, als merkte er es nicht. 
    "Will hier ist mein gesunder linker Arm, auf den ich mich verlassen kann. Ich und er, wir beide werden jetzt gemeinsam den einmaligen, sensationellen, äußerst gefährlichen und zuweilen tödlichen Kugeltrick vorführen!" 
    Beifall. Gelächter. 
    Rasch und jugendlich legte der vierundfünfzigjährige Hausmeister den Lauf der Waffe auf die zuckende Schulter des Jungen. 
    "Hörst du, Will? Hör mir gut zu! Es ist für uns!" 
    Der Junge lauschte. Der Junge wurde ruhiger. 
    Mr. Dark preßte die Faust härter zusammen. 
    Will befiel eine leichte Lähmung. 
    "Wir werden den Nagel genau auf den Kopf treffen! Stimmt's, mein Junge?" 
    Das Lachen schwoll an. 
    Und der Junge mit dem Flintenlauf auf der Schulter wurde tatsächlich sehr ruhig. Mr. Dark preßte die Fingernägel in das rosige Gesicht, das in seiner Faust verborgen lag, doch der Junge wurde bei der Stimmung, die ihn umgab, immer heiterer. Sein Vater deklamierte weiter. 
    "Zeig der Dame deine Zähnchen, Will!" 
    Will zeigte der Frau vor der Kimme seine Zähne. 
    Das Gesicht der Hexe wurde völlig blutleer. 
    Jetzt entblößte auch Charles Halloway seine Zähne, soweit sie noch vorhanden waren. 
    In die Staubhexe zog der Winter ein. 
    Unter den Zuschauern meinte jemand: "Junge, ist die großartig! Sie tut richtig furchtsam. Schau nur!" 
    Ich schaue schon, dachte Wills Vater. Seine Linke hing ihm nutzlos an der Seite herab, die Rechte hatte er am Abzug der Flinte, das Gesicht dicht am Visier. Sein Sohn stand stocksteif, und das Gesicht der Hexe war haargenau im Visier, vor der Zielscheibe. Dann kam der letzte, allerletzte Augenblick, der Gedanke: Eine Wachskugel im Schloß, was kann eine Wachskugel schon anrichten? 
    Eine Kugel, die sich unterwegs in Nichts auflöst, was nützt die schon? Was wollen wir hier? Was können sie uns tun? Albern, das alles. 
    Nein, dachte Wills Vater. Hör auf damit! 
    Er verscheuchte die Zweifel. 
    Er spürte, wie seine Lippen lautlose Worte formten. 
    Doch die Hexe hörte, was er sagte. 
    Im ersterbenden Gelächter, noch ehe der warme

Weitere Kostenlose Bücher