Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
Hier hatten wir uns letztes Jahr auf unseren Sitzen gewunden, als wir dem merkwürdigen Gynäkologen zuhören mussten, den man vom Gesundheitsamt eingeflogen hatte, als an der Schule eine Reihe von Geschlechtskrankheiten ausgebrochen war. Und als Mike letztes Jahr in Julius Caesar den Marcus Antonius spielte, war der Saal sogar ausverkauft gewesen. Doch noch nie hatte ich so ein Summen in dem großen Raum erlebt wie an diesem Morgen.
Alle trugen Schwarz. Ein paar Elftklässlerinnen hatten sich sogar schwarze Schleier vors Gesicht gezogen. Ich sah an mir herunter und stellte erleichtert fest, dass mein dunkelgrauer Kaschmirpullover mit dem Wasserfallausschnitt durchaus als Trauerkleidung durchgehen konnte, denn das schien an der Palmetto jetzt angesagt zu sein.
Doch es war nicht nur die Kleidung, die mich völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Im ganzen Raum surrte es von Energie, alle unterhielten sich aufgeregt miteinander und liefen die Gänge auf und ab. Niemand konnte still sitzen. Wir sahen aus wie eine Ameisenkolonie, deren Bau gerade zerstört worden war.
Das Chaos machte mich schwindelig. Ich suchte in meinem Rucksack nach einem Kaugummi und erinnerte mich dann daran, dass sie mir bereits ausgegangen waren. Mein Kiefer pochte. Ich brauchte Tracy und ich brauchte Mike. Musste ich wirklich durch dieses Meer von schluchzenden Bambis waten, um sie zu finden?
Plötzlich sah ich Kates langes Haar unter den fluoreszierenden Lichtern glänzen. Ich schlängelte mich auf sie und die vier Zehntklässlerinnen zu, die um sie herumstanden. Sie teilten sich eine Packung Taschentücher, als wäre es Popcorn.
»Was ist, wenn er für immer weg ist?«, fragte Kate gerade jammernd, und ich musste zweimal hinsehen, bis ich erkannte, dass sie tatsächlich weinte.
»Du musst auf das Schlimmste gefasst sein«, sagte Steph Merritt düster und half Kate, sich die Nase zu putzen.
Jesus. Wie viele Beweise brauchten diese Mädchen eigentlich noch? Kate hatte J. B. kaum gekannt. Ich weiß, dass es lächerlich klingt, dass ich J. B.s Tod so für mich beanspruchte, aber ich hatte ihn gekannt. Ich hatte ihn sogar etwas zu gut gekannt. Hatte ich mir dieses Recht dadurch nicht verdient?
»Sah er gestern Morgen etwa noch nicht tot genug aus?«, fragte ich ein wenig zu harsch und zu schnell. Die anderen Mädchen sprangen fast erschrocken zurück, doch Kate schniefte nur weiter.
»Wir haben nicht von J. B. gesprochen«, erklärte sie. »Hast du das von Baxter nicht gehört?«
»Was ist mit ihm?«, fragte ich und blickte mich im Auditorium um.
Kate sah die anderen Mädchen mit einem entschuldigenden Stirnrunzeln an und nahm mich dann am Arm. Sie führte mich ein paar Schritte weit weg an eine einigermaßen ruhige Stelle.
»Baxters Handy«, schauderte Kate. »Es war das ganze Wochenende über ausgeschaltet. Ich war so blöd und hab es gestern ungefähr zwanzigmal bei ihm versucht.« Sie sah mich an. »Er hat gesagt, dass wir zusammen lernen würden.«
»Er hat dich also nicht zurückgerufen«, stellte ich achselzuckend fest. »Das kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht hat er einen Nachhilfelehrer angeheuert …«
»Aber Samstagabend …« Sie wurde rot und sah weg. »Wir haben … auf der Party …«
Seufzend rieb ich mir die Schläfen. Ich spürte, wie die Anspannung in meinem Kopf zunahm.
»Kate, hast du eine Vorstellung davon, wie viele Zwölftklässler mit Zehntklässlerinnen schlafen, nur um sie hinterher fallen zu lassen?«, fragte ich sie.
Kate öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schüttelte sie nur den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen. Ich hatte sie nicht zum Weinen bringen wollen, aber normalerweise hatte sie ein etwas dickeres Fell.
»Es tut mir leid«, sagte ich und drückte ihre Schulter. »So hab ich das nicht gemeint. Ich bin nur total fertig wegen dieser Sache mit J. B. Ich wollte dich nicht …«
»Schon gut«, sagte sie leise. »Ich bin auch total fertig. Einer der Partner in der Kanzlei meines Vaters hat gehört, dass Justin am frühen Sonntagmorgen gestorben ist. Er war schon weg, als der Kirchendiener die Sanitäter gerufen hat. Baxter, meine ich, von der Party. Es heißt, J. B. sei an einem Drogencocktail gestorben. Und …« Sie sah auf und ihre Unterlippe begann zu zittern. Ihr Blick war gequält.
»Und was?«, fragte ich und spürte, wie mich wieder das taube Gefühl vom Vortag überkam.
Kate flüsterte: »Baxter ist heute nicht in der Schule. Und jetzt sagen die
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