Das Böse unter der Sonne
Phantasie zu haben.»
«Das kommt, weil er keine richtige Erziehung gehabt hat», erwiderte Redfern. «Jedenfalls behauptet das meine Frau. Allein schon was er liest! Nichts als Thriller und Westernromane.»
«Sie meinen, er besitzt immer noch die Mentalität eines kleinen Jungen?»
«Finden Sie nicht, Sir?»
«Nun, ich kenne ihn nicht so genau.»
«Ich auch nicht. Ich bin nur ein paarmal mit ihm gesegelt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass er nicht gern jemand dabei hat. Am liebsten segelt er allein.»
«Das ist wirklich seltsam», antwortete Poirot. «An Land ist er das genaue Gegenteil.»
«Ich weiß. Wir haben alle ziemliche Mühe, ihm aus dem Weg zu gehen, was?»
Ein paar Minuten schwieg Poirot und betrachtete nur das fröhliche Gesicht seines Gegenübers. Plötzlich sagte er übergangslos: «Ich glaube, Mr Redfern, Sie lieben das Leben.» Redfern blickte ihn überrascht an. «Das stimmt. Warum auch nicht?»
«Ja, wirklich», pflichtete ihm Poirot bei. «Warum auch nicht. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Lebensfreude.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Monsieur Poirot.»
«Deshalb erlaube ich mir auch, Ihnen einen Rat zu geben.»
«Ja, Sir?»
«Ich bin soviel älter als Sie, dass Sie es mir nicht übel nehmen werden. Ein sehr kluger Freund, ein hoher Polizeibeamter, sagte mal vor Jahren zu mir: ‹Hercule, mein Freund, wenn du in Frieden leben möchtest, bleib von den Frauen weg!›»
«Ich fürchte, da ist es bei mir bereits zu spät, Sir», antwortete Redfern. «Ich bin verheiratet, wissen Sie.»
«Ja, das weiß ich. Ihre Frau ist entzückend, ein großartiger Mensch. Ich glaube, sie mag Sie sehr, nicht wahr?»
«Ich liebe meine Frau», entgegnete Redfern scharf.
«Ah!», rief Poirot. «Ich bin entzückt, das zu hören.»
Redferns Miene verfinsterte sich. «Sagen Sie mal, Monsieur Poirot», fragte er, «worauf wollen Sie eigentlich hinaus?»
« Les femmes! » Poirot lehnte sich zurück und schloss die Augen. «Ich kenne sie! Sie können einem das Leben sehr schwer machen. Und wie die Engländer sich benehmen, wenn sie einen Seitensprung machen, ist unfassbar! Wenn Sie schon herkommen mussten, Mr Redfern, warum, in Gottes Namen, haben Sie Ihre Frau mitgebracht?»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», antwortete Redfern ärgerlich.
«Sie wissen es ganz genau», sagte Poirot ruhig. «Ich bin nicht so dumm, mich mit einem verliebten Mann zu streiten. Ich möchte Sie nur warnen.»
«Sie glauben wohl, was diese Lästermäuler hier im Hotel herumerzählen? Diese Mrs Gardener, die Brewster – sie haben nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag dazusitzen und die Leute durchzuhecheln. Nur weil eine Frau gut aussieht, zerreißen sie sie gleich in Stücke.»
Hercule Poirot erhob sich. «Sind Sie wirklich so naiv?», fragte er leise. Dann ging er hinaus.
Wütend starrte Redfern ihm nach.
Hercule Poirot trat aus dem Speisesaal und durchquerte die Halle. Die Eingangstüren standen offen, eine milde Abendbrise wehte herein. Der Regen hatte aufgehört, der Nebel war verschwunden. Es war ein herrlicher Abend.
Mrs Redfern saß an ihrem Lieblingsplatz auf den Klippen. Poirot blieb stehen und sagte: «Die Steine sind feucht. Sie sollten sich nicht hier hinsetzen. Sonst holen Sie sich noch einen Schnupfen.»
«Nein, sicher nicht. Außerdem – was spielt es schon für eine Rolle.»
«Na, na, Sie sind doch kein Kind mehr! Sie sind eine erfahrene Frau. Seien Sie vernünftig!»
«Ich versichere Ihnen, dass ich mich nie erkälte», antwortete sie kühl.
«Es war heute sehr nass. Es wehte ein heftiger Wind, es regnete, und der Nebel war so dicht, dass man kaum etwas sehen konnte. Eh bien, und nun? Der Nebel hat sich gelichtet, der Himmel ist klar, die Sterne leuchten. So ist nun mal das Leben, Madame.»
«Wissen Sie, was ich hier am meisten hasse?», sagte Christine mit leiser, wütender Stimme.
«Was, Madame?»
«Mitleid.» Das Wort klang wie ein Peitschenknall. Dann fuhr sie fort: «Glauben Sie, ich merke es nicht? Glauben Sie, ich weiß es nicht? Dass die Leute hinter mir hertuscheln und sagen: ‹Die arme Mrs Redfern! Die arme kleine Frau!› jedenfalls bin ich nicht klein, sondern groß. Sie sagen nur ‹klein›, weil sie mich bemitleiden. Und das ertrage ich nicht!» Vorsichtig breitete Poirot sein Taschentuch auf der Steinbank aus und setzte sich. «Da ist etwas Wahres dran», meinte er nachdenklich.
«Diese Person…», rief Christine wütend und brach ab.
«Erlauben Sie mir, dass
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