Das Böse unter der Sonne
Kehle…
13
N achdenklich sagte Poirot: «Wir haben uns kürzlich an einem Morgen, als wir draußen auf der Terrasse saßen, über die Leute unten am Strand unterhalten, die wie abgeschlachtet unbeweglich in der Sonne lagen, um braun zu werden. Dabei fiel mir auf, wie wenig sie sich voneinander unterschieden. Wenn man genauer hinsah – dann natürlich. Doch beim flüchtigen Hinblicken? Alle einigermaßen gut gewachsenen jungen Frauen sind sich auf gewisse Weise ähnlich. Zwei braune Beine, zwei braune Arme, dazwischen ein winziger Badeanzug – nur ein Körper, der in der Sonne liegt. Wenn eine Frau geht, spricht, lacht, den Kopf wendet, die Hand hebt – ja, dann ist sie jemand Bestimmtes, ein Individuum. Aber wenn sie in der Sonne liegen – nein, da sehen sie alle gleich aus.
An jenem Morgen unterhielten wir uns auch über das Böse, dass die Sonne auf die Guten wie die Schlechten scheine. Mr Lane zitierte aus der Bibel. Er ist ein sehr feinfühliger Mensch und spürt sofort, wenn etwas in der Luft liegt. Er wird unruhig. Aber obwohl er einen so guten Spürsinn für derartige Dinge besitzt, wusste er doch nicht genau, wo das Böse herkam. Seiner Meinung nach konzentrierte es sich in der Person von Arlena Marshall, und praktisch jeder hier stimmte ihm zu.
Aber meiner Meinung nach personifizierte nicht Arlena Marshall das Böse, das zweifellos vorhanden war. Es stand mit ihr in Verbindung, das ja, doch auf völlig andere Art, als allgemein vermutet wurde. Ich sah in ihr von Anfang an und bis zuletzt – also die ganze Zeit – das ‹natürliche Opfer›. Weil sie schön war, weil sie reizvoll war, weil sich die Männer auf der Straße nach ihr umdrehten, nahm man automatisch an, dass sie zu den Frauen gehörte, die mit den Männern nur spielten und ihr Leben zerstörten. Doch für mich war sie ganz anders. Es war nicht sie, die die Männer unweigerlich in ihren Bann zog – nein, es waren die Männer, die sie anzogen. Sie gehörte zu dem Typ, der Männern rasch gefällt und die sie bald wieder los sein wollen. Und alles, was man mir über sie erzählte oder was ich über sie herausfand, bestätigte meine Meinung. Das erste, was ich über sie hörte, war jene Scheidungsgeschichte, in der sie als Zeugin vor Gericht erscheinen musste. Der Mann, um den es dabei ging, wollte sie später nicht heiraten.
Da erschien Captain Marshall auf dem Plan, einer jener unerschütterlichen, ritterlichen Männer, wie es sie heute nur noch selten gibt, und bat sie um ihre Hand. Für einen scheuen, verschlossenen Mann wie Captain Marshall bedeutete jedes Aufsehen, jedes öffentliche Interesse an seiner Person die schlimmsten Qualen. Daher seine Liebe und sein Mitleid für seine erste Frau, die des Mordes angeklagt wurde und unschuldig war. Er heiratete sie und stellte bald fest, dass er sich in der Einschätzung ihrer Person nicht getäuscht hatte. Nach ihrem Tod lernt er eine andere schöne Frau kennen, vielleicht sogar vom gleichen Typ, denn Linda hat auch rotes Haar, das sie sicherlich von ihrer Mutter geerbt hat. Und diese Frau wird auch in der Öffentlichkeit durch den Schmutz gezogen. Wieder spielt Marshall den Ritter in der Not. Aber diesmal wurden seine Gefühle nicht belohnt. Arlena ist dumm, ist seine Liebe nicht wert, ist herzlos. Trotzdem bleibt er fair ihr gegenüber, und obwohl er aufhörte, sie zu lieben, und sie ihn langweilte, hatte er Mitleid mit ihr. Sie erschien ihm wie ein Kind, das im Buch des Lebens nicht über eine bestimmte Seite hinaus weiterlesen kann.» Hercule Poirot machte eine nachdenkliche Pause. «Ich erkannte», fuhr er dann fort, «dass Arlena Marshall mit ihrer großen Schwäche für das andere Geschlecht Freiwild war für einen bestimmten rücksichtslosen Typ von Mann. Patrick Redfern war dieser Typ. Er sieht gut aus, ist selbstsicher und gewandt und besitzt unbestreitbar viel Charme. Der Abenteurer, der auf diese oder jene Weise von den Frauen lebt. Während ich am Strand saß und die Leute beobachtete, wurde mir klar, dass Arlena Marshall Redferns Opfer war, nicht umgekehrt. Redfern war die Verkörperung des Bösen, und nicht Arlena.
Sie hatte vor kurzem ein großes Vermögen geerbt, das ihr ein alter Verehrer hinterlassen hatte. Er starb, bevor er sie satt bekam. Sie gehört zu den Frauen, die von den Männern immer wieder ausgenommen werden. Miss Brewster erwähnte einen jungen Mann, der von Arlena ‹ruiniert› worden sei, aber ein Brief von ihm, den wir in ihrem Zimmer fanden,
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