Das Bourne-Attentat
Würden Sie sagen, dass Sie geistig gesund sind?«
»Aber natürlich.«
Sever hielt Bournes Blick stand. Nach allem, was er angerichtet hatte, blieb er weiter unnachgiebig.
Bourne sah ihn schweigend an, dann stand er auf und ging zusammen mit Moira nach vorne zum Cockpit.
»Es ist ein langer Flug«, sagte sie leise. »Du brauchst ein bisschen Ruhe.«
»Das brauchen wir beide.«
Sie setzten sich nebeneinander und schwiegen lange. Hin und wieder hörten sie Sever leise stöhnen. Sonst war nichts zu hören als das Brummen der Triebwerke, das sie in den Schlaf lullte.
Es war eiskalt im Frachtraum, doch das machte Arkadin nichts aus. Die Winter in Nischni Tagil waren unbarmherzig gewesen. In einem solchen Winter hatte ihn Mischa Tarkanian gefunden, als er sich vor Stas Kuzins Leuten versteckte. Obwohl Mischa hart wie Stahl sein konnte, hatte er doch das Herz eines Poeten. Er konnte Geschichten erzählen, die so schön waren wie Gedichte. Arkadin war entzückt gewesen – falls ein solches Wort bei ihm angebracht war. Mischas wunderbare Geschichten vermochten Arkadin weit weg von Nischni Tagil zu tragen, und als Mischa ihn durch den inneren Ring der Schornsteine und den äußeren Ring der Hochsicherheitsgefängnisse durchschmuggelte, führten ihn seine Geschichten weit über Moskau und Russland hinaus. Diese Erzählungen gaben Arkadin eine erste Ahnung von der großen weiten Welt.
Wie er nun dasaß, mit dem Rücken gegen eine Kiste gelehnt, die Knie an die Brust hochgezogen, um sich warm zu halten, musste er wieder an Mischa denken. Ikupow hatte dafür bezahlt, dass er Devra getötet hatte, und Bourne musste dafür bezahlen, dass er Mischa getötet hatte. Aber er musste damit noch warten, auch wenn alles in Arkadin nach Rache schrie. Wenn er Bourne jetzt tötete, dann würde Ikupows Plan aufgehen, und das durfte er nicht zulassen, denn sonst wäre seine Rache an ihm nicht vollkommen gewesen.
Arkadin lehnte den Kopf an die Kiste zurück und schloss die Augen. Die Rache erschien ihm wie eine von Mischas Geschichten, sie vermittelte ihm ein Gefühl von Schönheit – die einzige Form von Schönheit, die ihm etwas bedeutete, die für ihn dauerhaft war. Nur die Gewissheit, dass der Augenblick der Rache kommen würde, machte es ihm möglich, hier still zu sitzen und zu warten – auf seinen Moment der unschätzbaren Schönheit.
Bourne träumte von der Hölle, die sich Nischni Tagil nannte, so als wäre er dort zur Welt gekommen, und als er erwachte, wusste er, dass Arkadin nahe war. Er öffnete die Augen und sah, dass Moira ihn anblickte.
»Was denkst du jetzt über den Professor?«, fragte sie, doch er vermutete, dass sie eigentlich meinte: Was denkst du jetzt über mich?
»Ich glaube, dass er durch seine jahrelange Besessenheit jeden gesunden Menschenverstand verloren hat. Ich glaube nicht, dass er noch Gut und Böse unterscheiden kann, oder Richtig und Falsch.«
»Hast du ihn deshalb nicht gefragt, warum er einen so zerstörerischen Weg eingeschlagen hat?«
»Ja«, sagte Bourne. »Was immer er antworten würde – für uns wär’s wohl kaum nachvollziehbar.«
»Das ist bei Fanatikern immer so«, meinte sie. »Deshalb ist es ja auch so schwierig, sie zu bekämpfen. Mit logischen Maßnahmen, zu denen wir natürlich greifen, ist ihnen schwer beizukommen.« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Er hat dich hintergangen, Jason. Er hat auf dein Vertrauen gezählt und dich für seine Zwecke benutzt.«
»Wenn man einen Skorpion anfasst, muss man damit rechnen, dass man gestochen wird.«
»Hast du kein Verlangen nach Rache?«
»Vielleicht sollte ich ihn im Schlaf ersticken oder ihn erschießen, so wie es Arkadin mit Semjon Ikupow gemacht hat. Aber glaubst du wirklich, dass ich mich dann besser fühlen würde? Meine Rache wird sein, dass ich den Anschlag der Schwarzen Legion verhindere.«
»Du klingst so vernünftig.«
»Ich fühle mich aber gar nicht vernünftig, Moira.«
Sie verstand, was er meinte, und das Blut schoss ihr in die Wangen. »Ich habe dich vielleicht belogen, Jason, aber ich habe dich nicht hintergangen. Das könnte ich nie tun.« Sie sah ihm in die Augen. »Ich habe in den letzten Wochen so oft den Wunsch gehabt, es dir zu sagen, aber ich hatte eine Verpflichtung gegenüber Black River.«
»Eine Verpflichtung ist etwas, das ich verstehe, Moira.«
»Verstehen ist eine Sache – aber kannst du mir verzeihen?«
Er streckte ihr die Hand entgegen. »Du bist kein Skorpion«, sagte er. »Das könntest
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