Das Bourne Duell
vorgeplant ist, wo es nicht die kleinste Abweichung vom vorgezeichneten Weg gibt. In Oxford fühlte ich mich sicher, genauso wie mein Vater. Das war auch der Grund, warum er so heftig auf das Leben reagierte, das Tracy führte. Was sie tat, machte ihm Angst, darum griff er sie an. Erst an dem Tag, als ich aus Oxford wegfuhr, begriff ich, wie das in unserer Familie funktionierte und was es aus mir gemacht hatte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass ich mein sicheres Leben vielleicht für ihn gewählt hatte, nicht für mich selbst.«
Sie drehte das Wasser ab und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Ihre Handrücken waren gerötet und sahen rau aus. »Ich muss meine Familie von hier wegbringen.«
»Sobald ein Freund von mir kommt, fahren wir«, sagte Bourne.
»Scarlett.«
»Sie ist bei Ihrem Vater.«
Sie blickte fast wehmütig ins Wohnzimmer hinüber.
»Wenigstens sie liebt meine Eltern.« Sie seufzte. »Gehen wir raus. Ich habe das Gefühl, ich bekomm keine Luft hier drin.«
Durch die Küchentür gingen sie in den taufeuchten Morgen hinaus. Die Luft war kalt, und wenn sie sprachen, stießen sie kleine Atemwolken aus. Chrissie zitterte und schlang die Arme um sich.
»Wie ging es dann weiter?«, fragte Bourne.
»Was dann passierte, war eigentlich reiner Zufall. Ich traf Holly.«
Bourne sah sie verblüfft an. »Holly Marie Moreau?«
Sie nickte. »Sie suchte Tracy und fand mich.«
Alles in dem Puzzle führt irgendwie zu Holly zurück , dachte er. »Und ihr habt euch angefreundet?«
»Mehr als das, und zugleich weniger«, antwortete sie. »Ich weiß, das klingt unverständlich.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich fing jedenfalls an, für sie zu arbeiten.«
Bourne runzelte die Stirn. Er fühlte sich wie ein Bergarbeiter, der sich ohne Licht durch einen dunklen Stollen vortastete und der instinktiv wusste, wohin er gehen musste. »Was hat sie gemacht?«
Chrissie lachte ein wenig verlegen. »Sie bezeichnete sich selbst verharmlosend als Regalfüllerin. Hin und wieder fuhr sie für zwei oder drei Wochen nach Mexiko. Dort sorgte sie im Auftrag eines Kunden dafür, dass eine Drogen-Ranch, eine Narcorancho, mit allem ausgestattet wurde, was man dort so braucht. Das sind praktisch leer stehende Anwesen, die irgendeinem mexikanischen Drogenbaron in Sonora oder Sinaloa gehören. Außer einem Verwalter und ein, zwei Wächtern lebt niemand ständig dort.
Jedenfalls nahm sie mich mit nach Mexiko City, in die Nachtklubs, die Bordelle, wo sie nach einer aktuellen Liste Mädchen aussuchte. Wir brachten die Mädchen auf die Ranch, die dem jeweiligen Kunden gehörte. Es waren nur wenige Mexikaner dort, wenn wir kamen, ein paar Tagelöhner und schwer bewaffnete Soldaten, die für uns nur ein spöttisches Grinsen übrig hatten, während sie die Mädchen begehrlich anstarrten. Mein Job war es, das Haus aufzupolieren und die Mädchen in die verschiedenen Schlafzimmer zu bringen. Die Tagelöhner haben die schweren Arbeiten übernommen.
Nach und nach kamen die Autos – Lincoln Town Cars, Chevy Suburbans, Mercedes, alle mit schwarz getönten Fenstern und dick gepanzert. Die Sicherheitskräfte haben das ganze Gelände abgeriegelt, als wären wir ein Armeelager im Krieg. Dann kamen die Leute, die die Lebensmittel brachten – frisches Fleisch, Obst, Bierkästen, Tequila und natürlich jede Menge Kokain. Es wurde Rindfleisch gegrillt, und ganze Schweine und Lämmer wurden am Spieß gebraten. Dazu spielten sie Salsa und laute Discomusik. Die Leute am Grill stanken so nach Schweiß und Bier, dass man ihnen nicht zu nahe kommen wollte. Dann erschienen die Bosse mit ihren Bodyguards und feierten ein ziemlich schauriges Fest.«
Bournes Gedanken arbeiteten so fieberhaft, dass ihm fast schwindelig wurde. »Einer von Hollys Kunden war Gustavo Moreno, nicht wahr?«
»Gustavo Moreno war ihr bester Kunde«, bestätigte Chrissie.
Ja , dachte Bourne, das ist es. Wieder ein fehlendes Teil in dem Puzzle .
»Er gab mehr aus als alle anderen. Er hat immer die
ganze Nacht durchgefeiert. Je später es wurde, umso wilder und lauter wurde die Party.«
»Sie waren weit weg von Oxford, Frau Professor.«
Sie nickte. »Ja, und weit weg von der Zivilisation. Aber Holly genauso. Sie führte ein Doppelleben. Sie sagte, sie hätte das schon in ihrer Jugend in Marokko gelernt, weil ihre Familie strenggläubig war. Eine Frau hatte dort wenig Rechte, ein Mädchen noch weniger. Offenbar hat ihr Vater mit der Familie gebrochen – das
Weitere Kostenlose Bücher