Das Bourne-Vermächtnis
Brust fiel. Sein unversehrtes Auge rollte verzweifelt in seiner Höhle, als versuche es, eine sichere Zuflucht zu finden.
Als Sina seelenruhig das nächste Zündholz anriss, musste der Söldner sich plötzlich übergeben. Sina ließ sich dadurch nicht beirren. Er musste jetzt begreifen, dass es nur eine Antwort gab, die bewirken würde, dass sie aufhörte. Er war nicht dumm; er wusste längst, wie sie lautete. Und kein Geld dieser Welt war solche Folterqualen wert. In dem tränenden unversehrten Auge las sie seine Kapitulation. Trotzdem würde sie nicht lockerlassen, bevor er ihr gesagt hatte, wohin sie Schiffer gebracht hatten.
Stepan Spalko, der hinter ihr stand und die Szene von Anfang bis Ende beobachtet hatte, war wider Willen beeindruckt. Er hatte keine klare Vorstellung davon gehabt, wie Sina vorgehen würde, wenn er ihr das Verhör übertrug. In gewisser Beziehung war das ein Test; aber es war auch mehr – es bot ihm die Möglichkeit, sie auf jene intime Weise kennen zu lernen, die er so schätzte.
Als Mann, der Tag für Tag Worte benützte, um Menschen und Ereignisse zu manipulieren, betrachtete Spalko sie mit angeborenem Misstrauen. Menschen logen, so einfach war das. Manche logen, weil ihnen gefiel, welche Wirkungen sie damit erzielen konnten; andere logen unbewusst, um sich vor Nachforschungen zu schützen; wieder andere belogen sich selbst. Nur darin, wie sie handelten, vor allem in extremen Situationen oder unter Zwang, zeigte sich ihr wahres Wesen. Dann gab es kein Lügen mehr; man konnte den vorliegenden Beweisen
unbesorgt vertrauen.
Jetzt wusste er eine Wahrheit über Sina, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Er bezweifelte, dass Hassan Arsenow sie kannte; dass er sie überhaupt geglaubt hätte, wenn man sie ihm erzählt hätte. In ihrem Innersten war Sina stahlhart, ja sie war sogar härter als Arsenow selbst.
Als er jetzt beobachtete, wie sie aus dem unglücklichen Söldner die benötigten Informationen herausholte, wusste er, dass sie auch ohne Arsenow leben konnte – aber Arsenow nicht ohne sie.
Bourne wachte zum Klang von Übungsarpeggien und
aromatischem Kaffeeduft auf. Einige Sekunden lang verharrte er noch zwischen Schlaf und Bewusstsein. Er merkte, dass er mit einer Steppdecke über sich und einem Daunenkissen unter dem Kopf auf Annaka Vadas’
Sofa lag. Im nächsten Augenblick kam er hellwach in Annakas sonnendurchflutetem Wohnzimmer an. Er
drehte sich um und sah sie mit einem riesigen Kaffeebecher neben sich an ihrem Konzertflügel sitzen.
»Wie spät ist’s?«
Sie spielte weiter ihre Arpeggien, ohne den Kopf zu heben. »Nachmittag.«
»Jesus!«
»Ja, es war Zeit, ich übe, Zeit, dass du aufstehst.« Sie begann ein Thema zu spielen, das er nicht identifizieren konnte. »Beim Aufstehen dachte ich eigentlich, du wärst in dein Hotel verschwunden, aber dann bin ich hier reingekommen und habe dich schlafen gesehen wie ein Baby. Also bin ich in die Küche gegangen und habe Kaffee gekocht. Möchtest du Kaffee?«
»Gern.«
»Du weißt, wo er steht.«
Sie hob jetzt den Kopf, sah absichtlich nicht weg und beobachtete, wie er die Daunendecke zurückschlug und Hemd und Cordhose anzog. Er tappte ins Bad, und als er dort fertig war, ging er in die Küche. Als er sich Kaffee eingoss, sagte sie: »Du hast dich gut gehalten, auch wenn dein Körper so vernarbt ist.«
Er suchte die Sahne. Annaka trank ihren Kaffee anscheinend schwarz. »Die Narben verleihen mir Charakter.«
»Auch die quer über deiner Kehle?«
Bourne durchsuchte weiter den Kühlschrank und gab keine Antwort, sondern griff unwillkürlich nach seiner Wunde und spürte dabei wieder Mylene Dutroncs mitfühlende Fürsorge.
»Die ist neu«, sagte sie. »Woher hast du die?«
»Von einem Zusammentreffen mit einem sehr großen, sehr zornigen Wesen.«
Sie bewegte sich, als sei ihr plötzlich unbehaglich.
»Wer hat versucht, dir die Kehle durchzuschneiden?«
Er hatte die Sahne gefunden. Er kippte einen Schuss in seinen Kaffee, fügte zwei Löffel Zucker hinzu, rührte um, nahm den ersten Schluck. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sagte er: »Das kann im Zorn passieren, hast du das nicht gewusst?«
»Woher sollte ich? Ich bin kein Teil deiner gewalttätigen Welt.«
Er musterte sie gleichmütig. »Du wolltest mich erschießen, hast du das vergessen?«
»Ich vergesse nie etwas«, sagte sie knapp.
Irgendetwas, das er gesagt hatte, hatte sie aufgebracht, aber Bourne wusste nicht, was. Ein Teil ihres Ichs war sehr
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