Das Bourne-Vermächtnis
nicht von der vertrauten Figur unter ihm stammt, weil sie tot ist und ihn daher mit ihrem Gewicht ins Verderben zieht.
Der Klang kommt aus größerer Nähe, und nun erkennt er die Wehklage als die eines klaren Tenors – der eigenen Stimme, die tief aus seinem Innersten kommt. Sie berührt jeden Teil seines Ichs gleichzeitig.
»Lee Li-Li! Li-Li!«, ruft er, kurz bevor er ertrinkt …
Kapitel sechzehn
Spalko und Sina erreichten Kreta vor Sonnenaufgang und landeten auf dem Flughafen Kazantzakis knapp au
ßerhalb von Iráklion. Sie wurden von einem Chirurgen und drei Männern begleitet, die Sina während des Fluges unauffällig studiert hatte. Sie waren nicht besonders groß, was den Vorteil hatte, dass sie niemals aus der Menge hervorragen würden. Spalkos gesteigertes Sicherheitsbewusstsein diktierte, dass er sich – wenn er wie jetzt nicht als Stepan Spalko, Präsident von Humanistas, Ltd.
sondern als der Scheich auftrat – möglichst unauffällig verhielt. Das galt nicht nur für ihn, sondern auch für alle seine Begleiter. In den sparsamen Bewegungen dieser Männer erkannte Sina ihre Kraft, denn sie hatten ihre Körper absolut unter Kontrolle, und wenn sie sich bewegten, taten sie es mit der Sicherheit und Geschmeidigkeit von Tänzern oder Jogameistern. In ihren dunklen Augen erkannte sie eine Zielstrebigkeit, die man erst nach jahrelanger harter Ausbildung erlangt. Auch wenn sie Sina respektvoll anlächelten, konnte sie die in ihnen lauernde Gefahr spüren, die wie eine zusammengerollte Schlange geduldig darauf wartete, freigesetzt zu werden.
Kreta, die größte Insel im Ägäischen Meer, ist eine Brücke zwischen Europa und Afrika: Ihre unter der hei
ßen Mittelmeersonne liegende Südküste war seit vielen Jahrhunderten ganz nach Alexandria in Ägypten und Bengasi in Libyen orientiert. Aber eine Insel in so gesegneter Lage musste unweigerlich Eroberer anziehen. Als Schmelztiegel von Kulturen hatte sie folglich eine blutige Geschichte. Wie Wellen, die sich am Strand brachen, gingen Invasoren aus fremden Ländern in den Buchten und an den Stränden Kretas an Land und brachten ihre Kultur, Sprache, Architektur und Religion mit.
Iráklion war im Jahr 824 v. Chr. von den Sarazenen gegründet worden. Sie nannten es Chandax, eine Verballhornung des arabischen Worts kandak , das den um die Stadt herum angelegten Wassergraben bezeichnete.
Die Sarazenen herrschten hundertvierzig Jahre lang, bevor sie von den Byzantinern vertrieben wurden. Aber die Piraten waren so erstaunlich erfolgreich gewesen, dass dreihundert Schiffe nötig waren, um ihre aufgehäufte Beute nach Byzanz zu schaffen.
Während der venezianischen Besetzung trug die Stadt den Namen Candia. Unter den Venezianern entwickelte sie sich zum bedeutendsten Kulturzentrum des östlichen Mittelmeers. Doch damit war Schluss, nachdem Kreta erstmals von den Türken besetzt wurde.
Diese multikulturelle Vergangenheit hatte überall deutlich sichtbare Spuren hinterlassen: in der mächtigen venezianischen Festung, die den schönen Hafen von Iráklion schützte; im Rathaus, das eine venezianische Loggia war, und dem »Koubes«, dem türkischen Brunnen in der Nähe der Basilika des Agios Titos, die von den Türken zur Moschee umgebaut worden war.
Aber in der modernen, belebten Großstadt selbst war keine Spur der minoischen Kultur zurückgeblieben – der ersten und aus archäologischer Sicht wichtigsten kretischen Zivilisation. Gewiss, außerhalb der eigentlichen Stadt waren Überreste des Palasts von Knossos zu besichtigen, aber nur Historiker wiesen darauf hin, dass die Sarazenen Chandax an genau der Stelle gegründet hatten, an der schon vor Jahrtausenden der wichtigste minoische Hafen gelegen hatte.
Im Grunde genommen blieb Kreta eine geheimnisumwitterte Insel, die man nicht betreten konnte, ohne an die Sagen erinnert zu werden, die sich um seine versunkene Kultur rankten. Viele Jahrhunderte vor dem Auftreten der Sarazenen, der Venezianer oder der Türken hatte die Insel, aus dem Dunstkreis der Vorgeschichte tretend, erstmals eine bedeutende Rolle erlangt. Minos, der erste kretische König, war ein Halbgott. Sein Vater Zeus hatte seine Mutter Europa in Gestalt eines Stiers entführt, und so wurde der Stier von Anfang an zu einem wichtigen Symbol der Insel.
Minos und seine beiden Brüder kämpften um die
Herrschaft über Kreta, aber Minos betete zu Poseidon und versprach dem Meeresgott ewigen Gehorsam, wenn er ihm helfe, seine Brüder zu besiegen.
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