Das Bourne-Vermächtnis
habe, hat er die Nase gerümpft – er wollte lieber Fußball spielen.« Als Bourne die Erinnerung an Joshua wachrief, richtete sein Blick sich nach innen. »Seine Freunde haben alle Fußball gespielt, aber das war nicht der einzige Grund. Seine Mutter war Thailänderin; auf ihren Wunsch ist er sehr früh im Buddhismus unterwiesen worden. Sein ›Amerikanertum‹
hat ihn nicht interessiert.«
Annaka schob ihren leer gegessenen Teller von sich weg.
»Ich glaube im Gegenteil, dass sein ›Amerikanertum‹
ihn vermutlich sehr beschäftigt hat«, sagte sie. »Wie könnte’s anders sein? Glaubst du nicht, dass er in der Schule tagtäglich daran erinnert worden ist?«
Vor seinem inneren Auge erschien plötzlich Joshua: verpflastert, mit einem blau-schwarzen Auge. Als er Dao danach gefragt hatte, hatte sie behauptet, der Junge habe sich zu Hause bei einem Sturz verletzt. Aber am nächsten Tag hatte sie Joshua in die Schule begleitet und war mehrere Stunden dort geblieben. Bourne hatte sie nie eingehend befragt; damals war er beruflich zu eingespannt gewesen, um sich überhaupt mit dieser Sache zu beschäftigen.
»Darauf bin ich nie gekommen«, sagte er jetzt.
Sie zuckte mit den Schultern und sagte ohne wahrnehmbare Ironie: »Weshalb auch? Du bist Amerikaner.
Die Welt gehört dir.«
Woher kommt ihre unterschwellige Feindseligkeit?, fragte er sich. Von der tiefen Angst vor dem hässlichen Amerikaner, die in letzter Zeit wieder geschürt worden ist?
Sie ließ sich Kaffee nachschenken. »Du kannst deine Probleme wenigstens mit deinem Sohn besprechen«, sagte sie. »Mit meiner Mutter …« Sie zuckte mit den Schultern.
»Mein Sohn ist tot«, sagte Bourne, »seine Schwester und seine Mutter auch. Die drei sind vor vielen Jahren in Phnom Penh umgekommen.«
»Oh.« Anscheinend hatte er ihren coolen, stählernen Panzer endlich durchstoßen. »Das tut mir sehr Leid.«
Bourne sah zur Seite, denn jede Erwähnung Joshuas quälte ihn wie Salz in einer offenen Wunde. »Du hast dich doch bestimmt mit deiner Mutter versöhnt, bevor sie gestorben ist.«
»Ich wollte, ich hätte’s getan.« Annaka starrte in ihren Kaffee; auf ihrem Gesicht stand ein konzentrierter Ausdruck. »Erst als sie mich an Chopin herangeführt hat, habe ich den ganzen Wert ihres Geschenks begriffen. Mit welcher Begeisterung ich die Nocturnes gespielt habe, auch als ich noch mit ihren technischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte!«
»Das hast du ihr nicht erzählt?«
»Ich war ein Teenager; wir haben nicht viel miteinander gesprochen.« Ihre Augen waren kummervoll dunkel.
»Heute wünsche ich mir, ich hätte es getan.«
»Du hattest deinen Vater.«
»Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich hatte ihn.«
Die Entwicklungsabteilung für nichttödliche taktische Waffen war in mehreren anonym wirkenden, mit Efeu bewachsenen Klinkergebäuden untergebracht, die einst ein Mädchenpensionat gewesen waren. Der Agency war es sicherer erschienen, eine schon bestehende Einrichtung zu übernehmen, statt einen Neubau zu errichten. So konnte sie die Gebäude entkernen und von innen zu dem Labyrinth aus Büros, Labors und Konferenzräumen ausbauen, das die Abteilung brauchte – und das alles nicht mit fremden Baufirmen, sondern mit eigenen hoch qualifizierten Fachkräften.
Obwohl Lindros seinen Dienstausweis vorgelegt hatte wurde er in einen fensterlosen weißen Raum geführt, in dem er fotografiert wurde, seine Fingerabdrücke abgeben musste und einem Iris-Scan unterzogen wurde.
Nach etwa einer Viertelstunde kam endlich ein CIA-Schlips herein und sprach ihn an: »Deputy Director, Direktor Driver hat jetzt Zeit für Sie, Sir.«
Der stellvertretende CIA-Direktor folgte ihm wortlos.
Sie verbrachten weitere fünf Minuten damit, über indirekt beleuchtete eintönige Korridore zu marschieren.
Lindros konnte nicht beurteilen, ob er womöglich nur im Kreis herumgeführt wurde.
Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen, die sich in Lindros’ Augen durch nichts von allen übrigen Türen unterschied, an denen sie vorbeigekommen waren. Wie die anderen auch trug sie keine Beschriftung, kein Namensschild keine Identifizierung, sondern nur zwei ins Türblatt eingelassene Lämpchen. Eines glühte dunkelrot.
Der Schlips klopfte dreimal an die Tür. Im nächsten Augenblick ging das rote Licht aus, und das zweite Lämpchen brannte grün. Der CIA-Schlips öffnete die Tür und trat beiseite, um Lindros einzulassen.
Auf der anderen Seite fand er Direktor Randy Driver vor,
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