Das Bourne-Vermächtnis
wuchsen nur Disteln und wilder Mohn. Die kri-kri , die überall auftretende kretische Bergziege, war das einzige Tier, das auf Höhe des Klosters überleben konnte. Der alte Steinbau war seit langem in Vergessenheit geraten. Welches Räuber- und Piratenvolk in der turbulenten Geschichte der Insel ihn erbaut hatte, war für Laien schwer festzustellen. Er war wie die Insel selbst durch viele Hände gegangen, war stummer Zeuge von Gebeten und Opfern und Blutvergießen gewesen. Schon ein flüchtiger Blick zeigte, dass er sehr alt sein musste.
Seit undenklichen Zeiten war der Sicherheitsaspekt für Krieger und Mönche gleichermaßen wichtig gewesen –
daher die Lage des Klosters auf einem Bergkamm. Auf einer Seite lagen die in Terrassen angelegten, duftenden Oliven- und Orangenhaine; auf der anderen klaffte eine Schlucht wie vom Säbelhieb eines Sarazenen, der dem Berg mit roher Gewalt eine tiefe Wunde geschlagen hatte.
Nachdem sie in dem Haus in Iráklion auf professionellen Widerstand gestoßen waren, plante Spalko ihren nächsten Angriff sehr sorgfältig. Eine Erstürmung des Klosters bei Tageslicht kam nicht in Frage. Unabhängig davon, aus welcher Richtung sie sich annäherten, würden sie niedergemäht werden, lange bevor sie die von Zinnen gekrönten, massiven Mauern des Klosters erreichten.
Während die Männer des Teams ihren verletzten Kameraden ins Flugzeug zurückbrachten, damit der Chirurg ihn versorgen konnte, und die benötigte Ausrüstung zusammenstellten, liehen Spalko und Sina sich Motorräder, um die Umgebung des Klosters zu erkunden.
Am Eingang der Schlucht stellten sie die Maschinen ab und wanderten hinunter. Der Himmel war leuchtend
blau, so strahlend, dass er mit seiner Aura alle übrigen Farben zu tränken schien. Vögel kreisten und stiegen in der Thermik, und als die Brise kräftiger wurde, erfüllte der köstliche Duft von Orangenblüten die Luft. Seit sie seinen Privatjet bestiegen hatte, wartete Sina geduldig darauf, zu erfahren, warum der Scheich mit ihr allein sein wollte.
»Es gibt einen unterirdischen Zugang zum Kloster«, sagte Spalko, als sie über Geröll zu dem Teil der Schlucht abstiegen, der dem Kloster am nächsten war. Die Kastanien am Eingang der Schlucht hatten anspruchsloseren Zypressen Platz gemacht, deren verdrehte Stämme aus Erdspalten zwischen den Felsen wuchsen. Die beiden benützten ihre biegsamen Zweige als improvisierte Griffe, während sie weiter dem steil abfallenden Boden der Schlucht folgten.
Über die Informationsquellen des Scheichs konnte Sina nur Vermutungen anstellen. Jedenfalls war klar, dass er über ein weltweites Netzwerk von Leuten verfügte, die ihm praktisch sämtliche Informationen beschaffen konnten, die er je benötigen würde.
Sie rasteten kurz im Schatten eines Felsblocks. Mittag war längst vorbei, und sie aßen Oliven, Fladenbrot und in Olivenöl, Essig und Knoblauch eingelegten Tintenfisch.
»Erzähl mir etwas, Sina«, sagte Spalko jetzt. »Denkst du oft an Chalid Murat – trauerst du ihm nach?«
»Er fehlt mir sehr.« Sina fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und biss von einem Kanten Brot ab.
»Aber nichts währt ewig, und jetzt ist Hassan unser Führer. Was ihm zugestoßen ist, war tragisch, aber es ist nicht unerwartet gekommen. Die russischen Unterdrücker haben uns alle im Visier; mit diesem Wissen müssen wir leben.«
»Was wäre, wenn ich dir erzählen würde, dass die Russen nichts mit Murats Tod zu schaffen hatten?«, fragte Spalko.
Sina hörte zu essen auf. »Das verstehe ich nicht. Ich weiß, was passiert ist. Das weiß jeder.«
»Nein«, sagte Spalko leise, »du weißt nur, was Hassan Arsenow dir erzählt hat.«
Sie starrte ihn an, und als sie zu begreifen begann, wurden ihr die Knie weich.
»Wie …?« Sina war so erschüttert, dass ihre Stimme versagte; sie musste sich räuspern und erneut anfangen, wobei sie merkte, dass ein Teil ihres Ichs die Frage, die sie jetzt stellen würde, nicht beantwortet haben wollte.
»Woher weißt du das?«
»Das weiß ich«, erwiderte Spalko nüchtern, »weil Arsenow sich mir gegenüber verpflichtet hat, Chalid Murat zu liquidieren.«
»Aber weshalb? «
Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. »Oh, das weißt du, Sina, das weißt du am besten – du als seine Geliebte, die ihn besser kennt als jeder andere … Du weißt es ganz genau!«
Und das stimmte leider; Hassan hatte selbst oft genug davon gesprochen. Chalid Murat verkörperte die alte Ordnung. Er konnte nicht
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