Das Bourne-Vermächtnis
werden mussten, und endlich meine Chance bekommen. Zufällig hat der Gangsterboss, der den Tod meines Bruders befohlen hatte, sich jede Woche einmal beim Friseur im Hotel Metropol rasieren lassen.«
»Ich weiß, was jetzt kommt«, sagte Sina. »Du hast dich als sein Friseur ausgegeben, und als er vor dir gesessen hat, hast du ihm mit einem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten!«
Er starrte sie sekundenlang an, dann begann er zu lachen. »Das ist sehr gut, filmisch sehr wirkungsvoll.« Er schüttelte den Kopf. »Aber im richtigen Leben hätte das nicht funktioniert. Der Boss war seit fünfzehn Jahren beim selben Friseur; er hätte jeden Ersatzmann abgelehnt.« Spalko beugte sich über sie, küsste sie. »Sei nicht enttäuscht, sondern lass dir das eine Lehre sein.« Er schlang einen Arm um Sina, zog sie an sich. Irgendwo im Nationalpark brüllte ein Leopard.
»Nein, ich habe gewartet, bis er frisch rasiert, frisiert und entspannt von dem aufmerksamen Service war. Ich habe ihm auf offener Straße vor dem Metropol aufgelauert – an einem so öffentlichen Ort, dass nur ein Verrückter ihn wählen konnte. Als er aus dem Hotel gekommen ist, habe ich ihn und seine Leibwächter erschossen.«
»Und dann bist du entkommen.«
»In gewisser Weise«, sagte er. »An jenem Tag bin ich entkommen, aber ein halbes Jahr später bin ich in einer anderen Stadt aus einem fahrenden Auto heraus mit einem Molotowcocktail beworfen worden.«
Sie fuhr mit den Fingern zärtlich über sein von einer dünnen Narbenschicht überzogenes Fleisch. »So gefällst du mir, unvollkommen. Der Schmerz, den du erlitten hast, macht dich … heldenhaft.«
Spalko sagte nichts und hörte Sina dann gleichmäßig tief atmen, als sie einschlief. Natürlich war kein Wort von seiner Geschichte wahr gewesen, obwohl er zugeben musste, dass diese Story gut war – filmisch sehr wirkungsvoll. Die Wahrheit … was war die Wahrheit? Er kannte sie kaum noch; er hatte so viel Zeit darauf verwandt, seine kunstvolle Fassade zu errichten, dass er sich an manchen Tagen in der eigenen Scheinwelt verirrte. Jedenfalls hätte er niemandem die Wahrheit erzählt, weil das für ihn nachteilig gewesen wäre. Leute, die einen kannten, glaubten, einen zu besitzen, als ob die Wahrheit, die man in einem schwachen Augenblick, den sie Intimität nannten, einen an sie binden könnte.
In dieser Beziehung war Sina wie alle anderen, und er hatte den bitteren Geschmack von Enttäuschung im
Mund. Andererseits enttäuschten andere Menschen ihn ständig. Sie spielten nicht in seiner Liga; sie konnten die Feinheiten des Weltgeschehens nicht wie er begreifen.
Sie waren eine Zeit lang amüsant, aber eben nur für gewisse Zeit. Diesen Gedanken nahm er mit in den bodenlosen Abgrund seines tiefen, traumlosen Schlafs hinunter, und als er aufwachte, war Sina fort, an die Seite des ahnungslosen Hassan Arsenow zurückgekehrt.
Bei Tagesanbruch stiegen die fünf in zwei Range Rover, die von Mitgliedern des Humanistas-Teams ausgerüstet worden waren und gelenkt wurden, und fuhren nach
Süden aus der Stadt auf den von Pöbel bewohnten Slum zu, der wie ein Krebsgeschwür an der Flanke Nairobis wucherte. Keiner sagte ein Wort, und sie hatten nur leicht gefrühstückt, weil sie alle – sogar Spalko – im Bann ungeheurer Anspannung standen.
Obwohl der Morgen klar war, hing über dem weitläufigen Slumgebiet ein Gifthauch, der vom Fehlen jeglicher Kanalisation zeugte und das stets drohende Gespenst der Cholera heraufbeschwor. Die Bewohner hausten in wackeligen Unterkünften, windschiefen Hütten aus Pappe und Wellblech, einigen Holzhütten und quadratischen Betonbauten, die man für Bunker hätte halten können, wären die draußen im Zickzack gespannten Leinen nicht gewesen, an denen Wäsche in der staubigen Luft flatterte. Dazwischen immer wieder von Planierraupen aufgetürmte Erdhügel, frisch und rätselhaft, bis die Vorbeifahrenden die angesengten und verkohlten Überreste von ausgebrannten Hütten, Schuhe mit weggebrannten Sohlen oder Fetzen eines blauen Kleides sahen.
Diese wenigen Artefakte, Zeugen jüngster Geschichte
– nur sie existierte hier –, ließen die Hässlichkeit bitterster Armut noch fürchterlicher erscheinen. Falls man hier ein Leben führen konnte, war es unbeständiger, chaotischer und trister, als man mit Gedanken oder Worten ausdrücken konnte. Alle wurden von dem Gefühl erfasst, hier herrsche selbst im Licht des neuen Morgens endlose Nacht. Das weitläufige
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