Das Bourne-Vermächtnis
verächtlich. »Du erwartest doch wohl nicht, dass ich das glaube?«
»Du kannst glauben, was du willst«, sagte sie ausdruckslos, »wie du’s immer getan hast.«
Er schüttelte sie wieder. »Was soll das heißen?«
Sie keuchte, biss sich auf die Unterlippe. »Wie sehr ich meinen Vater gehasst habe, ist mir erst klar geworden, als ich mit dir zusammen war.« Er lockerte seinen Griff, und sie schluckte krampfhaft. »Durch deine unbeirrbare Feindschaft gegenüber deinem Vater ist mir ein Licht aufgegangen; du hast mir gezeigt, wie man den rechten Augenblick abwartet, wie man den Gedanken an Rache genießt. Und du hast Recht: Als er erschossen wurde, war ich bitter enttäuscht, weil ich’s nicht selbst getan hatte.«
Obwohl er sich nichts anmerken ließ, schockierte ihn, was sie sagte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, dass er so viel von sich preisgegeben hatte. Er war beschämt und nahm es ihr übel, dass sie ohne sein Wissen so viel über ihn hatte in Erfahrung bringen können.
»Wir waren ein Jahr lang zusammen«, sagte er, »für Leute wie uns ist das ein Leben.«
»Dreizehn Monate, einundzwanzig Tage und sechs
Stunden«, sagte sie. »Ich erinnere mich genau an den Augenblick, in dem ich dich verlassen habe, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich dich nicht so kontrollieren konnte, wie Stepan es verlangt hat.«
»Und was war daran schuld?« Seine Stimme klang beiläufig, obwohl ihn das brennend interessierte.
Ihr Blick suchte erneut seinen und ließ ihn nicht mehr los. »Weil«, sagte sie, »ich mich nicht unter Kontrolle hatte, wenn ich mit dir zusammen war.«
Sagte sie die Wahrheit, oder versuchte sie nur wieder, ihn hinters Licht zu führen? Chan, der in jeder Beziehung so selbstsicher gewesen war, bevor Jason Bourne in sein Leben zurückgekehrt war, wusste es nicht. Er empfand wieder Scham und Ressentiments, sogar etwas Angst, weil seine scharfe Beobachtungsgabe und sein unfehlbarer Instinkt ihn im Stich ließen. Trotz seiner Abwehrversuche waren wieder Gefühle im Spiel, breiteten sich wie giftiger Nebel über seinen Verstand aus, trübten sein Urteilsvermögen und ließen ihn in unbekannten Gewässern in eine Flaute geraten. Er fühlte sein Begehren nach ihr stärker werden als je zuvor. Er begehrte sie so sehr, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, seine Lippen auf die köstlich duftende Haut ihres Nackens zu drücken.
Und weil er das tat, nahm er den Schatten nicht wahr, der plötzlich ins Innere des Skoda fiel: ein Schatten, den Annaka bemerkte, als sie jetzt ihre Blickrichtung änderte, sodass sie den hünenhaften Amerikaner sah, der die hintere Tür aufriss und den Griff seines Revolvers auf Chans Hinterkopf krachen ließ.
Chans Griff lockerte sich, seine Hände sanken herab, als er bewusstlos auf dem Rücksitz zusammensackte.
»Hallo, Frau Vadas«, sagte der Amerikaner in perfektem Ungarisch. Er lächelte, während seine linke Pranke ihre Pistole einsammelte. »Mein Name ist McColl, aber mir wär’s lieber, wenn Sie mich Kevin nennen würden.«
Sina träumte von einem orangeroten Himmel, unter
dem eine gewaltige Horde moderner Krieger – ein Heer von mit NX 20 ausgerüsteten Tschetschenen – aus dem Kaukasus kommend in die Steppen Russlands einfiel, um Tod und Verderben in die Reihen ihres alten Feindes zu tragen. Aber Spalkos Experiment war so beeindruckend gewesen, dass es in ihrem Fall die zeitlichen Barrieren aufgehoben hatte. Sie war wieder ein Kind, befand sich wieder in der elenden Behausung ihrer Eltern in einem von Granaten beschädigten Gebäude, hörte die versagende Stimme ihrer vorzeitig gealterten Mutter: »Ich kann nicht aufstehen. Nicht einmal, um Wasser zu holen. Ich kann nicht mehr.«
Aber jemand musste weitermachen. Sina war damals
fünfzehn, das älteste der vier Kinder. Als der Schwiegervater ihrer Mutter kam, nahm er nur ihren Bruder Kanti mit, den männlichen Erben des Klans; alle anderen –
auch seine Söhne – hatten die Russen erschossen oder in die berüchtigten Lager Pobedinskoje und Krasnaja Turbina deportiert.
Danach übernahm sie die Aufgaben ihrer Mutter,
sammelte Altmetall, um es zu verkaufen, und holte Wasser. Aber obwohl sie todmüde war, konnte sie nachts nicht schlafen, weil sie immer Kantis tränenüberströmtes Gesicht vor sich sah, sein Entsetzen darüber spürte, dass er seine Angehörigen verlassen musste und aus seinem bisherigen Leben gerissen wurde.
Wöchentlich dreimal machte sie sich auf den Weg über
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