Das Bourne-Vermächtnis
vermintes Gelände, um Kanti zu besuchen, seine blassen Wangen zu küssen und ihm von Vater und Geschwistern zu erzählen. Eines Tages fand sie ihren Großvater tot auf.
Die russischen Sondertruppen waren bei einer Säuberungsaktion vorbeigekommen, hatten ihren Großvater erschossen und ihren Bruder nach Krasnaja Turbina abtransportiert.
Im folgenden halben Jahr hatte Sina versucht, Nachricht von Kanti zu bekommen, aber sie war jung und hatte keine Erfahrung mit solchen Dingen. Außerdem fand sie ohne Geld niemanden, der zu Auskünften bereit gewesen wäre. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter – ihre Schwestern waren inzwischen bei Pflegeeltern – schloss sie sich den Aufständischen an. Damit hatte sie sich kein leichtes Los erwählt: Sie musste Einschüchterung durch Männer ertragen; sie musste lernen, schwach und unterwürfig zu wirken, ihre Kräfte zu schonen und gezielt einzusetzen. Aber dank ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz eignete sie sich die nötigen Fertigkeiten rasch an. Sie diente ihr auch als Sprungbrett, als es darum ging, die Mechanismen des Machtspiels zu verstehen. Im Gegensatz zu Männern, die den Aufstieg in der Rebellenhierarchie durch Einschüchterung schafften, war sie gezwungen, dazu ihre körperlichen Reize einzusetzen. Nachdem sie ein Jahr lang einen Führungsoffizier nach dem anderen erduldet hatte, gelang es ihr endlich, einen nächtlichen Überfall auf Krasnaja Turbina zu organisieren.
Das war der einzige Grund, weswegen sie sich den
Aufständischen angeschlossen hatte und durch eine Hölle auf Erden gegangen war, aber sie fürchtete sich davor, was sie dort vielleicht entdecken würde. Und trotzdem fand sie nichts, nicht den geringsten Hinweis auf das Schicksal ihres Bruders. Kanti war einfach spurlos verschwunden.
Sina schrak keuchend hoch. Sie setzte sich auf, sah sich um und erkannte, dass sie in Spalkos Privatjet auf dem Flug nach Island war. In Gedanken, die noch halb im Traum befangen waren, sah sie Kantis tränenüberströmtes Gesicht, roch den scharfen Laugengeruch aus den Massengräbern in Krasnaja Turbina. Sie ließ betrübt den Kopf hängen. Es war die Ungewissheit, die an ihr nagte. Hätte sie gewusst, dass er tot war, hätte sie ihre Schuldgefühle vielleicht überwinden können. Aber falls er wie durch ein Wunder überlebt hatte, würde sie’s nie erfahren, sie konnte ihn nicht retten und ihn vor den Schrecken des russischen Lagers bewahren.
Dann merkte sie, dass jemand auf sie zutrat, und sah auf. Es war Magomet, einer der beiden Unterführer, die Hassan nach Nairobi mitgenommen hatte, damit sie
Zeugen wurden, wie sich ihr Tor zur Freiheit öffnete.
Achmed, der zweite Unterführer, mied sie ganz bewusst, seit er gesehen hatte, dass sie sich in westlicher Kleidung wohl fühlte. Magomet, ein Bär von einem Mann mit
mokkabraunen Augen und lockigem Vollbart, den er mit den Fingern strählte, wenn er nervös war, lehnte sich leicht gebeugt an den Ledersessel vor ihr.
»Alles in Ordnung, Sina?«, fragte er.
Ihr Blick suchte zuerst Hassan, fand ihn schlafend.
Dann verzog sie die Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Ich habe von unserem bevorstehenden Triumph geträumt.«
»Herrliche Aussichten, nicht wahr? Endlich nehmen wir Rache! Unser Tag in der Sonne!«
Obwohl sie merkte, dass er sich danach verzehrte, neben ihr zu sitzen, forderte sie ihn nicht dazu auf; er würde damit zufrieden sein müssen, nicht weggeschickt zu werden. Sie räkelte sich, sodass ihre Brüste hervortraten, und beobachtete amüsiert, wie sein Blick starr wurde.
Fehlt nur noch, dass ihm die Zunge aus dem Mund hängt , dachte sie.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte er.
»Ein Kaffee wäre gut.« Weil sie wusste, dass er auf Hinweise lauerte, achtete sie darauf, dass ihr Tonfall strikt neutral blieb. Im Gegensatz zu Achmed, der sie wie die meisten Tschetschenen nur als minderwertiges weibliches Wesen betrachtete, war Magomet von ihrem Status durchaus beeindruckt. Der Scheich hatte ihr eine wichtige Aufgabe übertragen, und das Vertrauen, das er ihr dadurch aussprach, bestärkte Magomet in seinem Respekt.
Sina wankte für kurze Zeit in ihrem Entschluss, als ihr klar wurde, welch gewaltige kulturelle Barriere sie niederzureißen versuchte. Aber nachdem sie sich einige Augenblicke lang bewusst konzentriert hatte, war sie wieder obenauf. Der Plan, den sie auf Anregung des Scheichs formuliert hatte, war vernünftig; er würde funktionieren
– das wusste sie so sicher, wie sie
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