Das Bourne-Vermächtnis
zurückschrecken.
Der Prozess, auf eine Versöhnung hinzuarbeiten, war für beide ungeheuer schwierig. Für Chan vielleicht noch schwerer, vermutete Bourne. Was ein Sohn von seinem Vater brauchte, war weitaus komplexer als das, was ein Vater von seinem Sohn brauchte, um ihn vorbehaltlos lieben zu können.
Bourne musste sich eingestehen, dass er Angst vor Chan hatte – nicht nur vor dem, was man ihm angetan hatte und was er geworden war, sondern auch vor seiner Tüchtigkeit, seiner Cleverness und Findigkeit. Dass er aus dem Raum mit den verriegelten Türen entkommen war, war ein Wunder für sich.
Und es gab noch etwas anderes, ein Hindernis auf ihrem Weg zu gegenseitiger Anerkennung, vielleicht sogar zur Versöhnung, das alle anderen in den Schatten stellte.
Um Bourne akzeptieren zu können, musste Chan sich von seinem ganzen bisherigen Leben lossagen.
Mit dieser Einschätzung hatte Bourne Recht. Seit er sich in der Old Town von Alexandria zu Chan auf die Parkbank gesetzt hatte, lag Chan im Streit mit sich selbst.
Und dieser Krieg ging weiter – nur dass der Kampf jetzt öffentlich ausgetragen wurde. Wie beim Blick in einen Rückspiegel konnte Chan alle versäumten Gelegenheiten sehen, Bourne zu liquidieren, aber erst jetzt verstand er, dass er sie absichtlich nicht genutzt hatte. Er konnte Bourne nicht töten, aber er konnte ihm auch nicht sein Herz öffnen. Er erinnerte sich an seinen verzweifelten Drang, sich in der Gasse hinter der Budapester Klinik auf Spalkos Männer zu stürzen. Nur Bournes Warnung hatte ihn davon abgehalten. Damals hatte er seine heftige Reaktion auf den Wunsch zurückgeführt, sich an Spalko zu rächen. Aber jetzt wusste er, dass sie eine ganz andere Ursache gehabt hatte: die Liebe, die ein Sohn für seinen Vater empfindet.
Und trotzdem entdeckte er zu seiner Beschämung,
dass er vor Bourne Angst hatte. In Bezug auf Kraft, Ausdauer und Intellekt war Bourne wahrhaft Furcht erregend. In seiner Nähe fühlte Chan sich irgendwie herabgesetzt, als sei alles, was er in seinem Leben geleistet hatte, nichts wert.
Leichtes Durchsacken, ein Stoß, kurzes Reifenquietschen, dann waren sie gelandet, verließen die Landebahn und benützten einen Rollweg zur Abstellfläche für Businessjets am anderen Ende des Flughafens. Noch bevor die Maschine zum Stehen gekommen war, stand Chan auf
und ging zur Kabinentür.
»Los jetzt!«, sagte er ungeduldig. »Spalko hat mindestens drei Stunden Vorsprung.«
Aber Bourne, der ebenfalls aufgestanden war, vertrat ihm den Weg.
»Niemand weiß, was uns dort draußen erwartet. Ich steige als Erster aus.«
Chans Zorn, der so dicht unter der Oberfläche lauerte, flammte sofort auf. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass du mich nicht rumkommandieren sollst! Ich kann selbst denken – ich treffe meine Entscheidungen selbst. Das habe ich schon immer getan, und ich werde es auch in Zukunft tun.«
»Du hast Recht. Ich versuche nicht, dir irgendetwas wegzunehmen«, sagte Bourne, dem das Herz bis zum
Hals schlug. Dieser Fremde war sein Sohn. Was er in seiner Gegenwart tat oder sagte, konnte für lange Zeit unabsehbare Folgen haben. »Aber denk daran, dass du bisher allein warst.«
»Und wessen Schuld ist das deiner Meinung nach?«
Es war schwierig, sich nicht gekränkt zu fühlen, aber Bourne tat sein Bestes, um den Vorwurf zu entschärfen.
»Schuldzuweisungen sind zwecklos«, sagte er gelassen.
»Jetzt arbeiten wir zusammen.«
»Ich soll also einfach alle Entscheidungen dir überlassen?«, fragte Chan hitzig. »Warum? Bildest du dir vielleicht ein, du hättest Anspruch darauf?«
Sie hatten das Empfangsgebäude schon fast erreicht.
Bourne wurde bewusst, wie brüchig ihr Waffenstillstand war.
»Es wäre töricht, zu glauben, ich hätte dir gegenüber irgendwelche Ansprüche.« Er sah aus dem Fenster zu dem hell beleuchteten Empfangsgebäude hinüber. »Ich dachte nur, falls es irgendein Problem gibt – falls uns ein Hinterhalt erwartet –, würde ich lieber selbst …«
»Hast du mir eigentlich niemals zugehört?«, knurrte Chan, indem er sich an Bourne vorbeidrängte. »Willst du alles ignorieren, was ich ohne dich erreicht habe?«
Unterdessen war der Pilot aus dem Cockpit gekommen. »Öffnen Sie die Tür«, befahl Chan ihm brüsk.
»Und bleiben Sie an Bord.«
Der Pilot öffnete gehorsam die Tür und fuhr die
Gangway aus, bis sie den Asphalt berührte.
Bourne machte einen Schritt vorwärts. »Chan …«
Aber ein zorniger Blick seines Sohns ließ ihn
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