Das Bourne-Vermächtnis
nicht einmal Sina ahnte, dass er an dem Attentat auf Murat beteiligt gewesen war. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Murat war zunehmend nervös geworden, was die möglichen Konsequenzen des Plans des Scheichs betraf. Er hatte nicht Arsenows Vision, ihm fehlte sein starker Sinn für soziale Gerechtigkeit. Chalid hätte sich damit zufrieden gegeben, Tschetschenien wieder den Russen abzunehmen, während der Rest der Welt sich verächtlich abwandte.
Als ihm der Scheich dagegen seinen kühnen und verwegenen Plan dargelegt hatte, war das für Arsenow der Augenblick der Offenbarung gewesen. Er konnte die Zukunft, die der Scheich ihnen wie eine reife Frucht hinhielt, deutlich sehen. Ganz unter dem Eindruck dieser übernatürlichen Erleuchtung stehend, hatte er von Chalid Murat eine Bestätigung erwartet – und stattdessen die bittere Wahrheit einsehen müssen. Chalid konnte nicht über die Grenzen seines Heimatlandes hinaussehen, er konnte nicht begreifen, dass eine Zurückeroberung der Region in gewisser Weise zweitrangig war. Arsenow war bewusst, dass die Tschetschenen stärker werden mussten, um nicht nur das Joch der russischen Ungläubigen abzuschütteln, sondern um ihren Platz in der islamischen Welt einnehmen und sich den Respekt der anderen muslimischen Staaten verdienen zu können.
Die Tschetschenen waren Sunniten, die den Lehren
der Sufi-Mystiker anhingen, deren Verkörperung das sikr genannte Gedenken an Allah war: ein Gemeinschaftsritual mit heruntergeleierten Gebeten und rhythmischem Tanz, das einen gemeinschaftlichen Trancezustand bewirkte, in dem den Versammelten das Auge Allahs erschien. Die Sunniten, deren Glaube ebenso monolithisch war wie jede andere Religion, verabscheuten, fürchteten und schmähten deshalb jeden, der auch nur im Geringsten von ihrer starren Doktrin abwich. Mystizismus, aus welcher Quelle auch immer, war ihnen ein Gräuel. Wirklich in jeder Beziehung Gedankengut aus dem 19. Jahrhundert , dachte Arsenow verbittert.
Seit dem Tag des Attentats, seit dem lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er der neue Führer der tschetschenischen Freiheitskämpfer geworden war, lebte Arsenow in einem fieberhaften, fast halluzinatorischen Zustand. Er schlief tief, aber nicht erholsam, denn er hatte ständig Albträume, in denen er in Ruinenlandschaften etwas oder jemanden zu suchen schien – stets vergeblich.
Das bewirkte, dass er im Umgang mit Untergebenen
reizbar und kurz angebunden war, dass er keinerlei Ausreden gelten ließ. Nur Sina war imstande, ihn zu beruhigen; ihre alchimistische Berührung gestattete ihm, aus dem seltsamen Schwebezustand zurückzukehren, in den er mittlerweile verfallen war.
Die Wundschmerzen brachten Arsenow in die Gegenwart zurück. Er starrte aus dem Autofenster auf die Straßen mit alten Häusern hinaus, beobachtete mit an Todesqualen grenzendem Neid, wie jedermann seinen Geschäften nachging, ohne die geringste Angst erkennen zu lassen.
Er hasste sie, hasste jeden einzelnen dieser Menschen, die in ihrem ungezwungen freien Leben niemals einen Gedanken auf den verzweifelten Freiheitskampf verschwendeten, den sein Volk seit dem 18. Jahrhundert führte und den er fortsetzte.
»Was hast du, Liebster?« Ein besorgter Schatten zog über Sinas Gesicht.
»Die Beine tun mir weh. Ich kann nicht mehr richtig sitzen, das ist alles.«
»Ich kenne dich. Die Tragödie von Murats Ermordung belastet dich weiter, obwohl wir ihn blutig gerächt haben. Fünfunddreißig russische Soldaten haben den Mord an Chalid Murat mit dem Leben bezahlt.«
»Nicht nur an Murat«, sagte Arsenow. »An unseren
Männern. Durch russischen Verrat haben wir siebzehn Mann verloren.«
»Du hast den Verräter aufgespürt und ihn eigenhändig vor den Unterführern erschossen.«
»Um ihnen zu zeigen, was allen Verrätern an unserer Sache blüht. Das Urteil ist rasch gefällt worden, die Strafe war hart. Das ist unser Los, Sina. Es gibt nicht genug Tränen, um unser Volk zu beweinen. Sieh uns doch an!
Verloren und zersprengt, im Kaukasus versteckt, über hundertfünfzigtausend Tschetschenen als Flüchtlinge im Ausland.«
Sina unterbrach Hassan nicht, als er diese quälenden Tatsachen erneut aufzählte, denn solche Erzählungen mussten so oft wie möglich wiederholt worden. Sie waren die Geschichtsbücher der Tschetschenen.
Arsenows Fingerknöchel wurden weiß, so krampfhaft ballte er die Hände zu Fäusten. »Ah, hätten wir doch nur eine Waffe, die tödlicher als ein AK-47 und wirksamer
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