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Das brennende Gewand

Das brennende Gewand

Titel: Das brennende Gewand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Dutzende von tschilpenden Spatzen pickten das zerbröselte Brot vor dem Fenster, und der Becher mit Wasser stand unberührt auf dem Sims.
    Wie üblich half Almut das immer gleiche Ritual der Messe, ihren inneren Frieden zu finden. Die Litaneien machten sie wohlig schläfrig, der Weihrauch umhüllte sie mit vertrautem Duft, und warme Sonnenstrahlen ergossen sich über ihren Rücken. Sie schreckte ein wenig auf, als plötzlich das Kreuz auf dem Altar in die Höhe fuhr und mit einem rasselnden Geräusch bis unter die Kuppel glitt. Gleichzeitig regnete es Blumen von oben herab.
    »Aaah!«, rief die staunende Menge, der so recht bildhaft die Himmelfahrt des Erlösers vor Augen geführt wurde. Die darauffolgenden Gebete wurden mit besonderer Inbrunst verrichtet.
    Dann schließlich war der Gottesdienst beendet, und ruhig geworden schritt Almut wieder neben Clara her.
    »Ich habe den Spruch übrigens entschlüsselt«, erklärte diese, als sie sich dem Dom näherten. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob du damit etwas anfangen kannst.«
    »Oh, hervorragend. Irgendwas wird er schon bedeuten. Ich werde ihn heute Nachmittag zu meinem Besuch bei Herrn Gauwin mitnehmen.«
    Leise, nur für Almut hörbar, murmelte Clara: »Deinen Pater willst du aufsuchen, nicht den alten Mann.«
    »Na und?«
    Clara schenkte ihr ein wissendes Lächeln und meinte: »Ich habe da noch etwas gefunden, das ich dir geben will. Einen Text.«
    »Du hast doch wieder etwas geschrieben?«
    »Nein, nicht ich. Karsil hat diese Worte Salomos einst für mich übersetzt, und ich glaube, sie werden deine Erkenntnisse mehren.«
    Clara wirkte heiterer als seit Tagen, stellte Almut fest und fragte: »Es geht dir offenbar besser; sind die Schmerzen vergangen?«
    »Noch nicht ganz, aber der Ausschlag ist abgeheilt, und der Rest wird sich auch ergeben. Weißt du, ich habe viel nachgedacht. Ich kann nicht glücklich leben, ohne meinen Geist anzustrengen. Aber es gibt mehr Wetzsteine als die Bibel, an denen ich ihn scharf halten kann. So wie du es auch tust.«
    »Ich?«
    »Du wetzt den deinen an praktischen Problemen. Ich sollte mich vielleicht auch einmal daran versuchen.«
    »Pass nur auf, dass du dir dabei nicht deine zarten Fingerchen verletzt.«
    Clara kicherte.
    »Das werde ich wohl. Aber besser die Finger als das Herz.«
    Almut stellte erfreut fest, dass sich in Clara tatsächlich eine Wandlung vollzogen hatte. Zupackend wie Almut selbst würde sie nie werden, aber wenn sie ihre Klugheit einmal auf die täglichen Aufgaben statt auf ihre wissenschaftlichen Theorien anwenden wollte, dann mochten alle davon gewinnen.
    Als sie in ihrem Häuschen angekommen war, reichte Clara ihr das Pergament mit dem verschlüsselten Vers und deutete auf die Rückseite, auf der sie die Lösung notiert hatte. Almut las sie mit wachsendem Staunen und schüttelte dann den Kopf. »Ei wei, das hätte ich nicht erwartet. Mhm. Also, klüger bin ich jetzt auch nicht.«
    »Sagte ich doch. Aber bestimmt hat dein Pater eine Idee.« Dann reichte sie ihr noch eine ordentlich aufgewickelte Schriftrolle. »Das hier lies mit Bedacht, meine Freundin. Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, wie du die Worte mit großem Nutzen verwenden kannst.«
    Neugierig wie sie war, hätte Almut zwar gerne sogleich einen Blick darauf geworfen, aber das Festessen wartete, und die Beginen eilten zum Refektorium.
    Gertrud hatte sich selbst übertroffen. Wie es die Tradition verlangte, wurde an Himmelfahrt Geflügel zubereitet. Ein maurisches Hühnergericht mit Backpflaumen und Datteln wartete auf dem langen Tisch, Kapaune vom Spieß lagen mit goldgelb knuspriger Haut in Holzschüsseln, gefüllte Tauben umgab eine gekräuterte Weinsoße, und eine Pastete mit Geflügelleber schwamm in einer Buttertunke.
    Obwohl sie von allem kostete, konnte Almut sich nicht so recht an den Köstlichkeiten ergötzen. Sie war unruhig, und es drängte sie, das Haus am Alter Markt aufzusuchen.
     
    Um die neunte Stunde endlich stand sie vor der Tür und wurde von Frau Nelda eingelassen.
    »Der Herr ist auf dem Söller, Frau Almut. Und seine Laune ist nicht sehr sonnig angesichts der Botschaften, die ihn erreicht haben.«
    Alarmiert packte Almut sie am Arm.
    »Was für Botschaften?«
    »Dieser Gassenjunge...«
    »Oh nein!«
    »Lasst es Euch nicht verdrießen, Frau Almut. Ich glaube, er ist vor allem in Sorge um Euch. Geht hoch und vertreibt die Wolken!«
    Sie erklomm mit raschen Schritten die Stiege und kam ein wenig außer Atem auf dem

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