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Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)

Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)

Titel: Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wende
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die Freiheit politischer Selbstbestimmung von Fall zu Fall immer wieder neu fixiert bzw. ins Unbestimmte verschoben. Noch 1943 hegten maßgebliche Repräsentanten der Labour Party die Ansicht, die meisten Kolonialvölker seien auf absehbare Zeit hin noch keineswegs reif für die Unabhängigkeit.
    Schließlich wurde die Praxis der autokratischen Herrschaft durch das Instrument der Kollaboration gemildert und teilweise sogar dem Ideal der politischen Selbstbestimmung angenähert. Das Muster hierfür lieferte die Einbindung der zahlreichen Fürstentümer in das System der Machtausübung in Indien, das später in Afrika unter dem Begriff der indirect rule wieder aufgenommen wurde. Sowohl in den meisten afrikanischen Kolonien als auch in den zahlreichen Protektoraten und Mandatsgebieten bediente man sich des Mittels, einheimische Eliten in die Praxis der Kolonialherrschaft einzubinden, um die britische Oberhoheit zu sichern.
    Doch es täuscht, wenn auf den ersten Blick die verschiedenen Formen von Kollaboration zwischen der Kolonialmacht und deren Untertanen den Gegensatz von Autokratie und Selbstbestimmung scheinbar mildern. In Wahrheit wurden durch die Praxis der indirekten Herrschaft neue Spannungen heraufbeschworen, da Großbritannien dabei eine Allianz mit den herrschenden Eliten einging, d.h. mit den traditionalen Elementen von Gesellschaften, die gleichzeitig durch den Zugriff der Kolonialmacht verstärkt und z.T. unvermittelt den Einflüssen der von Europa ausgehenden Moderne ausgesetzt wurden. Der Widerspruch war offenkundig: Einerseits war das Empire der Vorreiter westlicher zivilisatorischer Errungenschaften und bediente sich modernster Techniken, um den Zusammenhalt des Reiches zu gewährleisten und insbesondere die Entwicklung der Wirtschaft zu fördern. Andererseits beruhte die Organisation der politischen Herrschaft vielerorts auf einem Bündnis mit den Kräften eines rückständigen Konservatismus. Während in England zur gleichen Zeit der Übergang zur Demokratie mit den letzten Wahlrechtsreformen abgeschlossen wurde, pflegte man im Empire nicht nur die Allianz mit autokratischen Herrschern, sondern London gründete nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Mandatsgebieten im Nahen und Mittleren Osten auch neue Monarchien wie den Irak und Jordanien mit neuen Herrschern von Londons Gnaden.
    Eine solche Politik entsprang zum einen dem Bemühen, durch die Allianz mit bestehenden Eliten die Herrschaft über ausgedehnte überseeische Territorien möglichst kostengünstig und konfliktfrei aufrechtzuerhalten, zum andern dem Wunsch und dem Bestreben, im britischen Empire bestimmte konservative soziale Ordnungsprinzipien realisiert zu sehen. Denn auch die englische politische Kultur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war nicht frei von Widersprüchen. Im Gegensatz zur fortschreitenden Demokratisierung der britischen Verfassungswirklichkeit hingen große Teile der politischen Klasse weiterhin einem vormodernen Gesellschaftsideal an. Für viele maßgebliche Vertreter nicht nur der alten aristokratischen Führungsschicht, sondern auch der nachrückenden Aufsteiger blieben im England des industriellen Zeitalters die Ordnungsprinzipien einer hierarchisch gestuften Agrargesellschaft maßgebend, wie sie vor allem die Konservativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert hatten. Angesichts der bestehenden Spannungen und der vorherrschenden Dynamik der ökonomischen und sozialen Verhältnisse schauten viele rückwärts und ersetzten die Realität einer Klassengesellschaft durch ihr Idealbild einer Statusgesellschaft mit einer übersichtlichen hierarchischen Ordnung, die jedem seinen Platz zuweist.
    In dem Maße, in dem die Unvereinbarkeit von derartigen Wunschvorstellungen mit der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit Großbritanniens offenkundig wurde, wandte man sich dem Empire zu. Hier, in Übersee, hoffte man, die verlorene Welt wiederfinden bzw. neu errichten zu können, und es war nicht zuletzt dieses Ideal, das der Einrichtung des Systems der indirekten Herrschaft durch Kooperation mit indigenen Fürsten und Stammeshäuptlingen einen zusätzlichen Impuls verlieh. So entdeckten maßgebliche Handlungsträger der europäischen Kolonialmacht in ihrem Bestreben, der Gegenwart des europäischen Industriestaates zu entkommen, mit Blick auf die eigene Vergangenheit ihre Affinität zu traditionalen Stämmen und Herrschern in Übersee.[ 38 ] Und mehr noch, vor allem in den 20er und

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