Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
Territoriums umfaßten, darunter Herrscher über ganze Landstriche wie der Nizam von Haidarabad, aber auch Maharadschahs, die lediglich kleine Dörfer ihr eigen nannten. In der bunt gemischten Bevölkerung des Subkontinents wurden vierzehn verschiedene Sprachen mit mehr als 200 Dialekten gesprochen. Hinzu kamen die unterschiedlichen Religionen der Hindus, Sikhs und Moslems, die ihrerseits wieder in einzelne Sekten zerfielen; und schließlich offenkundig unüberbrückbare soziale Barrieren wie sie im Kastensystem der Hindus fixiert waren. So sprach schließlich beides gegen jede Form einer Alternative zu der bestehenden Kolonialherrschaft: einerseits die komplexe Realität der indischen Welt, andererseits die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschende Entschlossenheit der Briten, ihre Machtposition in Indien um jeden Preis zu behaupten.
Paradoxerweise aber war es gerade diese über Jahrzehnte effektive und erfolgreiche britische Herrschaft, die ihrerseits die Voraussetzungen dafür schuf, daß sich nach dem gescheiterten Aufstand von 1857 Widerstand gegen diese Herrschaft zu formieren begann, der auf deren Ende drängte. Wie vielerorts auf der Welt, so galt auch für Indien, daß der Kolonialstaat die wesentlichen Rahmenbedingungen für die Formierung des späteren postkolonialen Nationalstaats lieferte – auch dadurch, daß die Kolonialherrschaft zum Geburtshelfer eines antibritischen indischen Nationalismus wurde. Der liberale Brite Macaulay hatte einst mit seinem Erziehungskonzept für Indien davon geträumt, daß sich in Indien eine neue Klasse ausbilden werde, die, obschon indischen Ursprungs, englische intellektuelle und moralische Errungenschaften übernehmen und so in eigener Verantwortung in Zukunft Indien nach britischem Muster gestalten werde. Tatsächlich bildeten sich unter dem Eindruck europäischer geistiger Einflüsse neue intellektuelle Gruppen, vor allem im Rahmen einer neuen bürgerlichen Klasse. Es waren Lehrer, Journalisten, Ärzte und Amtsträger der Kolonialverwaltung, die die kleine aber einflußreiche Schicht einer neuen Intelligenz bildeten.
Doch die Vertreter dieser neuen Bildungsschicht beschränkten sich nicht auf die bloße Übernahme europäischen Gedankenguts, sondern strebten danach, dies mit dem Rückgriff auf indigene Traditionen zu verbinden. Dies kam besonders in den indischen Reaktionen auf die eifrige Missionstätigkeit christlicher Organisationen zum Ausdruck, wobei man sich keineswegs auf die bedingungslose Defensive einer erstarrten Orthodoxie überlieferter Glaubensrichtungen beschränkte. Beispielhaft und wegweisend hierfür war das Lebenswerk des gelehrten Brahmanen Raja Rammohan Roy (1772–1833). Anfangs im Dienst der East India Company, war er zu Beginn des 19. Jahrhunderts maßgeblich an der Gründung des Hindu-Colleges in Kalkutta beteiligt, das zur Wiege der neuen indischen Bildungsschicht wurde. Beim Studium der wichtigsten Weltreligionen glaubte Roy einen Urmonotheismus entdeckt zu haben, der die Verschmelzung eines gereinigten Hinduismus, der z.B. Bilderkult und Witwenverbrennung ablehnt, mit der christlichen Lehre ermögliche. Zu diesem Zweck hatte Roy in Bengalen die Vereinigung der Brahmo Samaj ins Leben gerufen, als eines der Hauptzentren einer religiösen Reformbewegung, die den Weg zur Verbindung nicht nur ethischer, sondern auch ökonomischer und politischer Konzepte europäischer Provenienz mit Loyalität zu eigenen einheimischen Traditionen weisen sollte. Dabei war diesen kompromißbereiten Reformern mit den ebenfalls anzutreffenden Vertretern einer rigorosen religiösen Reaktion eines gemeinsam: Beide beschworen den Hinduismus als die historische Basis für einen neuen indischen Nationalismus. Macaulays Traum vom indischen ‹gentleman›, «Indian in blood, but English in taste, opinion, in morals and intellect», war hier zur Illusion geworden.
Ins Politische gewendet brachte es diese Entwicklung mit sich, daß an englischem Gedankengut geschulte Inder schon bald vom englischen Vorbild abgeleitete Forderungen übernahmen und, etwa die Entwicklung der Dominions vor Augen, für Indien schließlich die gleichen Rechte forderten. Dabei setzte man auf Einsehen bei den Briten und hoffte bei der Forderung nach Gleichberechtigung für Indien im Rahmen des Empire auf Unterstützung durch die Kolonialmacht. So hieß es etwa im Leitartikel eines angesehenen indischen Blattes im Jahre 1874: «Kanada regiert sich selbst. Australien regiert sich selbst
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