Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
Company und an den britischen Aktivitäten in Indien dieser Verlagerung des Schwerpunkts des Empire von der westlichen in die östliche Hemisphäre. Selbst während der Jahre des ereignisreichen großen Krieges gegen das napoleonische Frankreich verlor man die Vorgänge in Indien nicht aus den Augen. Davon zeugen sowohl die Intensität einschlägiger Debatten im Parlament und in der Presse als auch zahlreiche Publikationen wie etwa James Mills History of British India[ 9 ] sowie Kartenwerke, in denen außer den territorialen Besitzungen in Asien auch noch sämtliche britischen Handelsstationen von Bagdad bis hin nach Penang im Fernen Osten sorgfältig verzeichnet waren. Hier wurden nun in rascher Folge Neuauflagen fällig, denn vor allem während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierte der britische Machtbereich in Indien in wiederholten Schüben, bis schließlich 1871, als dort der erste Zensus veranstaltet wurde, ca. 236 Millionen Menschen unter direkter oder indirekter Herrschaft Londons standen und Indien endgültig zum Zentrum des neuen Empire geworden war.
Auch Großbritanniens indisches Kolonialreich war nicht das Ergebnis gezielter staatlicher Expansionspolitik in Übersee, sondern weitgehend das Resultat von Unternehmungen einzelner Gouverneure und militärischer Befehlshaber, die mit ihren Zielen und Aktionen nicht selten gegen den ausdrücklichen Willen der Londoner Zentrale handelten. So hatte der Gesetzgeber in der Charta des Jahres 1784 die East India Company ausdrücklich darauf hingewiesen, daß «Eroberungspläne zur Ausweitung der Herrschaft in Indien unvereinbar mit den Absichten, der Ehre und der Politik dieser Nation» seien, nicht zuletzt gemäß dem Grundsatz, daß nur friedlicher Handel Gewinne garantiere, Kriege hingegen vor allem Kosten verursachten.[ 10 ] Dem stand jedoch entgegen, daß seit der Landnahme in Bengalen innerhalb der Kompanie das Militär zunehmend an Einfluß gewann. Dies war das Erbe der Politik Clives, dessen Eroberungen nur durch eine Verstärkung der Streitkräfte gesichert bzw. ausgebaut werden konnten.
Diese Privatarmee der Kompanie, die im wesentlichen aus indischen Söldnern (sepoys) unter dem Kommando britischer Offiziere bestand, war zwischen 1763 und 1805 von 18.000 auf 155.000 Mann angewachsen. Im Unterschied zum Offizierskorps der königlich-britischen Armee rekrutierte sich das der indischen Armee vor allem aus Glücksrittern, die durch ihren Dienst zu schnellem Reichtum zu gelangen hofften. Und als 1798 der Marquis von Wellesley zum Generalgouverneur ernannt wurde, der ebenfalls entschlossen danach trachtete, durch sein Amt vor allem das Vermögen seiner Familie zu mehren und seinen persönlichen Status zu verbessern, setzte eine erneute Phase ausgreifender britischer Expansionspolitik ein, die im Windschatten des europäischen Krieges gegen Napoleon der Londoner Regierung gegenüber als Präventivmaßnahme gegen eine mögliche französische Invasion gerechtfertigt wurde. Unterstützt von seinem jüngeren Bruder Arthur, dem späteren Herzog von Wellington und Sieger von Waterloo, der als General der Gesellschaft in Indien seine ersten militärischen Erfahrungen sammelte, unterwarf Wellesley die zentralindischen Fürstentümer von Mysore und Haidarabad der Oberherrschaft der Kompanie, und mit der Ausweitung des britischen Machtbereichs bis hin nach Delhi wurden die Nachfahren der einstigen Mogulherrscher endgültig zu britischen Marionetten. Damit war die East India Company zur führenden indischen Territorialmacht aufgestiegen, deren unmittelbarer Herrschaftsbereich am Ende der Amtszeit des Gouverneurs Lord Dalhousie 1856 sich über mehr als die Hälfte des Subkontinents erstreckte.
Wie im 18. so wurde auch im 19. Jahrhundert die britische Indienpolitik trotz anders lautender Grundsatzerklärungen de facto von den maßgeblichen Befehlshabern vor Ort bestimmt, wobei Gouverneure und deren Generäle immer wieder die von den kaufmännischen Direktoren in London vorgegebenen Richtlinien ignorierten. Nicht ökonomische, sondern machtpolitische Interessen gaben die Zielsetzungen für eine expansionistische Politik vor, deren Kosten schon bald die durch Handel erzielten Gewinne überstiegen und nur noch durch Tributzahlungen und Zwangsanleihen der einheimischen Herrscher gedeckt werden konnten. Die aggressiven militärischen Unternehmungen wurden in der Regel als defensive Präventivschläge gerechtfertigt, wobei das Argument einer russischen
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