Das Buch aus Blut und Schatten
Aber beim Anblick der Peitsche lief es mir eiskalt über den Rücken.
»Kommen Sie.« Der Mönch führte uns in eine lange, schmale Halle, deren vergoldete Holztäfelung im warmen Licht schimmerte. Die Wände waren mit Büchern vollgestellt, sämtliche Flächen der gewölbten Decke mit Fresken der altgriechischen Philosophen geschmückt â alles schrie geradezu nach Kathedrale, doch was auch immer hier, in diesem Raum, unter dem starren Blick von Pythagoras, Aristoteles und Sokrates angebetet wurde, es war nicht Gott. Oder zumindest nicht derselbe Gott, der in der Klosterkirche mit ihren prächtigen Kreuzen und dem Buntglasfenster-Jesus zwei Stockwerke unter uns verehrt wurde. Nicht Gott allein.
Der Mönch bedeutete uns, auf zwei mit Samt bezogenen Stühlen vor einem massiven Holztisch Platz zu nehmen. Dann schickte er mit einem kurzen, wütenden Tschechisch-Stakkato, das offenbar keinen Widerspruch duldete, einen Gehilfen auf die Suche nach den Erstausgaben. Sie wurden uns eine nach der anderen gebracht â alternde, von Schimmel befallene Folianten, die vorsichtig auf Lesepulte gelegt wurden. Ihr Einband bestand aus abgenutztem Leder, die Seiten waren vollgestopft mit lateinischem Text und aufwendig gearbeiteten astronomischen Stichen, Planeten tanzten auf geometrischen Umlaufbahnen, mathematische Gleichungen waren mit Sternen geschmückt. Der Gehilfe verschwand gleich wieder, doch der Mönch behielt uns genau im Auge, während wir durch die Seiten blätterten, in regelmäÃigen Abständen Aahs und Oohs von uns gaben und gelegentlich des überkandidelten toten Astronomen gedachten, der uns zusammengebracht hatte. Allerdings bemerkte unser Aufpasser nicht, wie unsere Finger über den Einband strichen, wo sie nach Wülsten oder Wölbungen suchten, nach verräterischen Stellen an den Nähten, nach irgendeinem Hinweis darauf, dass Elizabeth vor uns hier gewesen war.
Johannes Kepler â unter anderem kaiserlicher Hofastronom in Prag â war der legendäre Naturphilosoph, der die Gesetze der Planetenbewegung entdeckt und aus dem ästhetisch ansprechenden kopernikanischen Weltbild ein reales Modell des Universums gemacht hatte. Er war der Autor des ersten Science-Fiction-Romans und ein tief religiöser Mensch, der davon träumte, Gottes »Bauplan« zu verstehen. Seine Theorien zur Harmonie der Planetensphären lieÃen unzählige astrologische Spinner in Verzückung geraten. Doch 1599, als Elizabeth und Thomas auf der Suche nach heiligen Kelchen und gesegneter Erde in Prag herumrannten, war er ein verarmter, umstrittener Niemand, der irgendwo im Hinterland ein kümmerliches Dasein fristete und von einem besseren Leben träumte. Zu dieser Zeit hatte er lediglich ein Buch geschrieben, das Mysterium Cosmographicum , in dem nur die klügsten Köpfe Europas das sahen, was noch kommen sollte. Strahov hatte drei Erstausgaben davon in seiner Sammlung, und bei der dritten fand ich eine Naht am Einband, genau wie bei dem Petrarca. Wie um jeden Zweifel zu ersticken, fielen mir am unteren Rand der zweiten Seite neun kleine Buchstaben auf:
E I W
I F W
f s g
Es war kein Code. Es war eine BegrüÃung, die sie sich nie verkneifen konnte. E. I. Westonia, Ioanni Francisco Westonio, fratri suo germano . So sicher war sie gewesen, dass ihr Bruder lange genug leben würde und sie gut genug kannte, um das zu finden, was sie für ihn zurückgelassen hatte. Das und nicht weniger erwartete sie von ihrem fratri suo germano.
Eli sah, dass ich es sah. Und er wusste, was er zu tun hatte.
»Ich muss pinkeln«, sagte ich laut. Der Mönch zuckte zusammen.
Eli hatte sich tief über seine Erstausgabe des Buches gebeugt. »Dann geh pinkeln«, meinte er.
Der Mönch räusperte sich. »Die Toiletten sind ein Stockwerk tiefer, zweite Tür links.«
Ich zupfte Eli am Arm. »Und?«
»Ich muss nicht.«
»Aber ich.«
»Dann geh.«
»Allein?«
»Du kannst doch schon allein aufs Töpfchen gehen.«
»Aber da unten ist eine Gruft«, sagte ich.
»Sieben Stockwerke unter uns. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst.«
»Es ist dunkel . Und ich werde mich mit Sicherheit verlaufen . Komm einfach mit.«
Eli hob den Kopf, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst, ein Junge, der gerade beschlossen hatte, seinen ersten Kampf als Mann zu führen.
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