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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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reflexartigen, unmotivierten, durch und durch irrationalen Handlung hätte bezeichnen können, küsste ich ihn.
    Er wehrte sich nicht. Einige Sekunden lang. Dann wich er zurück, rückte seine Brille zurecht und sah mich an, als wäre ich ein Hundewelpe, der gerade ein besonders kompliziertes Kommando befolgt und ihm anschließend ans Bein gepinkelt hatte.
    Am liebsten wäre ich gestorben.
    Â»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich.
    Â»Warum hast du das gemacht?«
    Weil ich jemanden küssen wollte. Weil meine beiden besten Freunde beste Freunde waren, zwischen die kein Blatt passte, und vermutlich die meiste Zeit, die sie zusammen verbrachten, darauf warteten, dass ich endlich ging. Weil seine Augen je nach Lichteinfall braun und dann wieder grün, aber immer magnetisch anziehend waren. Weil ich ein Wunder vollbracht hatte – oder vielleicht, weil mir das nur gelungen war, weil ich mir vorgestellt hatte, jemand anders zu sein, jemand, der unerschrocken und leidenschaftlich und schon lange tot war, und noch nicht wieder ich selbst sein wollte. »Ich weiß es nicht.«
    Er lachte. Jetzt wollte ich ihn umbringen – und danach sterben.
    Â»Das ist ein furchtbarer Grund«, meinte er.
    Â»Ach ja? Hast du einen besseren?«
    Max beugte sich zu mir. Er nahm mein Gesicht in beide Hände, eine warme Hand an jeder Wange. Und dann küsste er mich.
    Â»Weil ich es wollte«, sagte er, als er mich losließ. »Das hätte gereicht.«
    20 Wir küssten uns noch einmal in jener Nacht, auf der Treppe zur Kirche, bevor er in die eine und ich in die andere Richtung ging. Und ja, danach lag ich die halbe Nacht wach und spielte alles wieder und wieder in Gedanken durch, stellte mir vor, dass ich seine Hände noch auf meinem Gesicht, in meinem Nacken, an meiner Hüfte spürte, dass seine Finger mit meinen verschlungen waren, seine Lippen auf meinen lagen und dass es sich für ein paar Sekunden angefühlt hatte, als würden wir zusammen atmen. Ich dachte an unseren Abschied, an den verlegenen Moment unter der Straßenlaterne, in dem unser Atem wie ein weißer Lufthauch in der Nacht verschwand, als er mich nicht fragte, ob ich noch mit auf sein Zimmer kommen wollte, und ich etwas Hirnverbranntes stammelte, darüber, dass ich das Auto meines Vaters haben konnte, wenn ich ihn danach fragte, aber manchmal lieber das Fahrrad nahm, und manchmal auch nicht. Dann ein letzter, flüchtiger Kuss auf die Wange, die leichte Berührung unserer Finger, die ich durch meine Handschuhe hindurch spürte. Am nächsten Morgen war ich fest davon überzeugt, dass es ein Traum gewesen war, und falls nicht, dann eben so etwas wie ein Anfall geistiger Umnachtung. Ich hatte ihn nicht nur dazu gebracht, mir aus Mitleid einen Kuss zu geben – ausgerechnet Max, ein Typ vom College, und dann auch noch einer, der bis jetzt absolut kein Interesse an mir gezeigt hatte –, sondern auch noch dafür gesorgt, dass ich nie wieder das Büro des Hoff betreten konnte. Es wäre die reinste Folter gewesen, so zu tun, als würde ich übersetzen, während ich mich die ganze Zeit fragte, ob Max mich anstarrte, und was für mitleidige, spöttische Gedanken ihm dabei wohl gerade durch den Kopf gingen. Oder, schlimmer noch, feststellen zu müssen, dass er mich nicht anstarrte, weil ich ihm herzlich egal war.
    Es reicht wohl, wenn ich sage, dass ich nicht von einem Happy End ausging und auch nicht damit rechnete, dass ich eine SMS bekam. Von ihm:
    Ich denke an dich.
    21 Max hatte einen Halbmond aus Sommersprossen auf seiner linken Schulter.
    Max war fast so schlecht darin, einen Witz zu verstehen, wie darin, einen zu erzählen, aber er war kitzlig, vor allem an seiner rechten Fußsohle, und wenn er lachte, lief sein Gesicht rot an.
    Max lag gern auf dem Bauch, ließ mich Nachrichten auf seinen nackten Rücken schreiben und riet dann, was ich zu sagen versuchte. X markiert die Stelle, schrieb ich. Max + Nora =, schrieb ich. Ich liebe dich, schrieb ich. Er erriet es nie und nach jedem Satz drehte er sich unter mir um, stützte sich auf die Ellbogen und küsste mich, ein Kuss für jede Nachricht. »Rate mal, was das bedeutet«, sagte er dann immer.
    Max und ich verbarrikadierten uns in seinem Zimmer, jedes Mal, wenn wir sicher waren, dass Adriane und Chris länger weg waren. Wir schlossen die Tür ab, kuschelten uns auf seiner durchgelegenen Matratze aneinander

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