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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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liegend.
    Max? Ich schluckte das Wort hinunter, zusammen mit der Hoffnung. Stand auf. Kniff die Augen zusammen und sah zu den Bäumen hinüber, wo ich nach dem verräterischen Aufblitzen von Brillengläsern suchte – oder nach dem eines Messers. Wartete darauf, dass er, wer auch immer er war, sich entschied, auf mich zuzukommen oder wegzulaufen. Kampf oder Flucht.
    Er blieb stehen und sah zu, wie ich ihn beobachtete.
    Â»Was?«, rief ich. Dieses Opfer würde keine Angst zeigen.
    Er kniete sich hin, wobei er mich die ganze Zeit im Auge behielt und sein Gesicht nicht aus dem Schatten herausbewegte, und fuhr mit der Hand über eine Stelle mit grauem Schnee.
    Dann rannte er weg.
    Â»Warte!«
    Aber ich rannte ihm nicht nach, denn wenn es Max gewesen wäre, wäre er zu mir gekommen, und wenn es nicht Max war…
    Einem Killer rannte man nicht nach.
    Nicht einmal, wenn man mehr als alles andere in der Welt sehen wollte, wie er starb.
    Er hatte etwas für mich dagelassen, an einer Stelle mit platt gedrücktem Schnee, in den sich Erde mischte. Es war so groß wie eine Hand mit gespreizten Fingern. Und wo der Handteller hätte sein müssen, hatte er ein Auge in den Schnee gekratzt, ein Auge, das von einem Blitz durchbohrt wurde. Eine Nachricht für mich.
    Er beobachtete mich.
    12 Zur Beerdigung war ich nicht eingeladen. Sie fand in Baltimore statt, im engsten Familienkreis. Dieses Kriterium erfüllte ich nicht. Erst, als Chris’ Mutter mir eine E-Mail schrieb und mich bat, im Namen der Moores an der Trauerfeier des College teilzunehmen und dann, hinterher, in Chris’ Zimmer im Wohnheim zu gehen, um dem Dekan beim Zusammenpacken seiner Sachen zu helfen. Da gehörte ich plötzlich doch zur Familie.
    Die Kapelle war voll mit Jugendlichen vom College und der Chapman Prep, die Chris auch nicht besser kannten als der Pfarrer, der über Chris’ Leistungen – in Listenform auf Karteikarten notiert – und Gottes Plan laberte. »Auf Gott können wir nicht wütend sein«, deklamierte der Geistliche. Gott war bei der Trauerfeier gut vertreten, Er führte Chris durch ein »kurzes, aber bedeutungsvolles Leben«, tröstete die trauernden Angehörigen »mit Seiner unendlichen Liebe«, geleitete Chris zum »ewigen Frieden, in dem wir eines Tages alle vereint sein werden«. Dieser Theorie zufolge hatte sein Gott das alles geplant, von Anfang bis Ende, und das Messer hatte Er vielleicht auch geführt. Und deshalb, weil Er die Kontrolle hatte, weil Er auf uns achtgab, sollten wir dankbar sein für Sein Interesse, egal, wie es auch aussehen mochte. Wir sollten Danke sagen.
    Â»Niemand von uns weiß, warum Chris von uns genommen wurde«, sagte der Geistliche. Ich verdrängte jeden Gedanken an den blutigen Brief, an den fürchterlichen Verdacht, dass ich wusste, warum, dass das Warum ich war.
    Links und rechts von mir saßen meine Eltern, beide in dunkler Bürokleidung, die Hände neben sich auf die Kirchenbank gelegt. Es war das erste Mal seit Andys Beerdigung, dass wir uns zusammen in einem Gotteshaus befanden. Damals hatten wir auf ausdrücklichen Wunsch meiner Großeltern in der ersten Reihe einer Synagoge gesessen, uns an den Händen gehalten und die Worte des Kaddisch gemurmelt, des traditionellen jüdischen Totengebets, in dem die Toten völlig ignoriert werden und lediglich der Gott gepriesen wird, der Andy aus dem Leben gerissen hatte. Alle aus meiner Familie sprachen die Worte nach, meine jüdische Großmutter, mein nicht praktizierender katholischer Vater, meine wenn-und-wannes-ihr-passte-buddhistische Tante, alle, bis auf meine Mutter, die ihre Lippen aufeinanderpresste, ihr Gebetbuch zuklappte und später – trotz des gewaltigen Streits, den sie einmal mit meinen Vater geführt hatte, damit Andy eine Bar-Mizwa bekam – meinen dreizehnten Geburtstag unbeachtet verstreichen ließ.
    Ich besaß nur ein Kleid, das dunkel und konservativ genug für die Trauerfeier des College war, und entschied mich nur widerwillig dafür, denn – so oberflächlich das auch klingen mag – es war eines meiner Lieblingskleider und ich wusste, dass ich es danach nie wieder tragen würde. Ich weinte nicht.
    13 Die Tür zum Büro des Dekans wurde nach meinem zweiten Klopfen geöffnet.
    Â»Kann ich Ihnen helfen?« Er war jünger, als ich erwartet hatte, vermutlich Anfang dreißig, aber schon fast

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