Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
Vom Netzwerk:
»künstlerischen« Fotos, zu denen Adriane ihn überredet hatte, an einem sonnigen Nachmittag, als die beiden sich in seinem Zimmer einschlossen, die Jalousien herunterließen und die Kamera auf ein strategisch platziertes Stativ setzten, während sie – wie Adriane es hinterher mir gegenüber formulierte, nachdem sie mich zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet hatte – »die Zeit nutzten«. Adriane, die ihre Zeit jetzt nutzte, um an die Wände einer Irrenanstalt zu starren, die nicht reagierte und unfähig war, sich zu bewegen, die gekämmt und gebadet und gewindelt wurde wie ein Pflegefall, wie eine Leiche. Adriane, die ich noch kein einziges Mal besucht hatte, weil ich es nicht ertragen konnte, ihr die Hand zu halten und in die Augen zu sehen und dabei zu wissen, dass sie gar nicht mehr da war.
    Ich hatte es begriffen. Die Idioten von CNN mussten ihren Job machen, der darin bestand, die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben. Sie mussten ein abschreckendes Märchen erzählen. Und dafür war dieses Bild ganz hervorragend geeignet. Zwei fotogene Opfer. Ein mutmaßlicher Killer und seine teuflische Freundin, die sich möglicherweise mitschuldig gemacht hatte. Sie schienen alle so unschuldig, so nett, so reizend, so furchtbar normal zu sein. Ich hatte einen Abzug des Fotos an der Wand neben meinem Bett hängen und jetzt musste ich es dort lassen, weil es ein Teil von ihm war. Der Tod tat das – er machte aus Belanglosem Talismane. Eine CD, die Chris gebrannt hatte, ein Notizblock, auf dem er rumgekritzelt hatte, ein Sweatshirt, das er getragen hatte: heilige Reliquien. Ich wusste, wie das funktionierte, schließlich hatte ich ja die letzten sechs Jahre in einem Schrein für einen toten Bruder gelebt. Daher ließ ich das Bild, wo es war, aber ich konnte es nicht mehr ansehen. Es war von ihnen in Beschlag genommen worden; irgendwie gehörte es nicht mehr uns.
    Jeder Tag war zu lang und jeder Tag war gleich, bis ich eines Tages aus keinem bestimmten Grund morgens aufstand, duschte, Sachen anzog, die mich wie ein normales, gut angepasstes Mitglied der Gesellschaft aussehen ließen, wie das schuldlose brave Mädchen, für das die Polizisten mich ganz offiziell hielten, und wieder in die Schule ging.
    10 Darüber möchte ich lieber nicht reden.
    11 Das Geheimnis: Du fühlst es nicht.
    Du tust nicht so, als würdest du nichts fühlen. Du hebst im Unterricht nicht die Hand, du würgst das Essen in der Cafeteria hinunter, du ignorierst die neugierigen Blicke der anderen genauso angestrengt wie den leeren Spind neben dir, von dem du weißt, dass innen an der Tür ein albernes Bild von Chris aus seinem Highschool-Jahrbuch hängt, um das mit Lippenstift ein genauso albernes Herz gemalt ist, du lächelst nicht angestrengt und schleichst dich nicht in die nächste Toilettenkabine, um zu weinen, wenn du zufällig mitbekommst, wie jemand etwas über deinen Freund, den Psychokiller, flüstert.
    Du schaltest einfach ab.
    Du lässt zu, dass du kalt und taub wirst, was ganz leicht ist, ungefähr so, als würde man einen Hügel hinunterrollen, als würde man aus dem Fenster fallen, denn Gefühllosigkeit ist alles, was der Körper will, und wenn man der Schwerkraft ihren Lauf lässt, klappt das auch.
    Aber es hat sowieso niemand etwas bemerkt. Ich war verrucht und unsichtbar zugleich. Chris und Adriane waren die Lokalhelden, das strahlende Paar, die Empfänger zahlloser Jahrbuch-Superlative und Verweise wegen Knutschereien auf dem Flur – während ich nach so langer Zeit immer noch die Neue war, die unter dubiosen Umständen hergekommen war. Es hatte mir nie etwas ausgemacht. Wir vier waren eine in sich geschlossene Einheit gewesen, mit unseren eigenen Geschichten, unseren eigenen Unarten und – berücksichtigt man sämtliche Insiderwitze, Anspielungen und Dinge, die nicht gesagt werden mussten – praktisch unserer eigenen Sprache. Das hatte in der Regel gereicht.
    Ich machte meine Hausaufgaben. Ich aß in der Bibliothek. Ich zuckte bei lauten Geräuschen und plötzlichen Bewegungen zusammen und mied die Dunkelheit. Ich nutzte die Vorteile, die ich bei meinem Lateinkurs im Selbststudium hatte, schamlos aus, obwohl es eigentlich nichts mehr zum Lernen gab, da sämtliche Unterlagen verschwunden waren und der Hoff inzwischen nach Texas in eine Rehaklinik verfrachtet worden war, und ergriff so oft wie

Weitere Kostenlose Bücher