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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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kahl.
    Â»Nora Kane. Ich sollte…« Ich brach ab, als mir klar wurde, dass noch jemand im Büro war. Er saß auf einem der Mahagonistühle vor dem Schreibtisch des Dekans. »Tut mir leid. Ich komm später noch mal.«
    Der Dekan schüttelte den Kopf. »Kommen Sie bitte rein. Wir haben Sie schon erwartet.«
    Die andere Hälfte von »wir« stand auf und sah mich an. »Du bist also sie.«
    Â»Eli Kapek«, stellte der Dekan ihn vor.
    Ich wartete, weil ich wissen wollte, warum mich das interessieren sollte.
    Â»Eli Kapek«, wiederholte er, als hätte das etwas zu bedeuten. Und dann, als ich immer noch nicht reagierte: »Christophers Cousin.«
    Die Haut auf Elis Gesicht verzog sich zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte, aber auf dem Weg dahin verhungert war. »Entschuldige, wenn ich nicht besonders erfreut bin, dich kennenzulernen.«
    Ich musterte sein Gesicht und wünschte mir aus irgendeinem perversen Grund, blind zu sein, damit mir das die gesellschaftlich sanktionierte Möglichkeit gäbe, zu ihm zu gehen und meine Finger auf seine hohen Wangenknochen zu legen, auf sein schmales Kinn, seine Nase, die zwar schief und etwas zu groß für sein Gesicht war, aber zu den asymmetrischen Augenbrauen und dem Zug um seine Mundwinkel passte. Vielleicht konnten meine Fingerspitzen dann etwas finden, was meine Augen nicht sahen, vielleicht konnten sie das zum Vorschein bringen, was ich dort suchte: Chris.
    Aber es war nicht da. Chris kam nach seiner Mutter. Seine dunkle Haut, seine krausen, wilden Haare, seine offene, freundliche Mimik – in dem scharf geschnittenen blassen Gesicht dieses Fremden war nichts davon vorhanden.
    Ich konnte Adriane nicht für das hassen, was ihr passiert war, ich konnte sie nicht dafür hassen, dass sie Chris und sich selbst nicht schützen konnte und ein unbekanntes Gift seine Wirkung tun ließ, ich konnte Max nicht für das hassen, was ihm passiert war, ich konnte ihn nicht dafür hassen, dass er darauf vertraut hatte, von mir verteidigt, vielleicht irgendwie von mir gerettet zu werden, als er es selbst nicht konnte. Und ich konnte die Moores nicht dafür hassen, dass sie die Stadt und damit mich verlassen hatten, denn jede Verpflichtung, die sie mir gegenüber hatten, war mit ihrem Sohn gestorben, und man tut, was man tun muss, um zu überleben.
    Ich konnte Chris nicht hassen.
    Doch Eli war ein Fremder und daher konnte mich nichts davon abhalten, ihn vom ersten Moment an zu hassen, dafür, wer er war und wer er nicht war, dafür, dass er nicht das war, was ich in ihm sehen wollte, und ganz besonders dafür, dass er lebte und Chris nicht. Es tat mir gut, jemanden zu haben, den ich hassen konnte, jemand anderes als einen imaginären Gott.
    Â»Können wir es jetzt gleich machen?«, fragte Eli, der mich dabei nicht ansah.
    Â»Nora, Christophers Eltern haben mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie sehr dankbar wären, wenn Sie Eli dabei helfen könnten, Christophers Sachen durchzusehen. Er wird sich dann um den Versand und alles Weitere kümmern.« Der Dekan gab mir einen Schlüssel.
    Ich hatte schon einen Schlüssel.
    Der Dekan begleitete uns zur Tür. »Sie kommen nicht mit?«, erkundigte ich mich.
    Â»Wir halten es für das Beste, engen Freunden und der Familie bei solchen Angelegenheiten so viel Privatsphäre wie möglich zu geben. Es sei denn …?«
    Â»Nein, ist schon gut«, sagte Eli, während er die Tür hinter sich zumachte. Wir waren allein. »Und du brauchst auch nicht mitzukommen.«
    Â»Doch, ich muss. Die Moores haben mich darum gebeten.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.«
    Ich hätte das Zimmer jederzeit betreten können; ich hatte überlegt, ob ich es tun sollte. Einen ganzen Vormittag lang hatte ich mich vor dem Wohnheim herumgedrückt und versucht, mich dazu zu zwingen.
    Aber dann war ich wieder nach Hause gegangen.
    Vielleicht hatte ich Angst, dass ich, wenn ich sein Zimmer erst einmal betreten hatte, nie wieder würde gehen können. Dass ich mich in eine Decke wickeln würde, die nach Max roch, mich auf dem Sofa zusammenrollen würde, das an einigen Stellen die Spuren von Chris’ Sneakern trug und ein bisschen nach schmutzigen Socken und kalter Pizza roch, mich bis in alle Ewigkeit dort verbarrikadieren würde, wie eine ägyptische Braut, die sich bei lebendigem Leib im Grabmal ihres Pharaos

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