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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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möglich die Flucht. Manchmal ging ich ins Kino und ließ mich vom Flimmern der Farben und des Lichts in die Geschichte von jemand anderem ziehen, doch es gab nur eines in der Stadt und die Fortsetzung von Irgendein Mist wird in die Luft gejagt: Teil 2 ertrug ich nicht unendlich oft. Die meiste Zeit verbrachte ich auf dem Campus.
    Auf der Westseite der großen Grünfläche um das College herum lag ein kleiner, kreisförmiger Platz, über den ich jahrelang gegangen war, ohne groß auf die in den Pflastersteinen eingravierten Namen und Daten zu achten. Dort saß ich jetzt oft, auf einer der Steinbänke, die am Rand der gepflasterten Fläche standen. Während des Unterrichts war dort niemand, was mir regelmäßig siebenundvierzig Minuten Ruhe verschaffte.
    Die Namen waren die von Studenten, die daneben eingravierten Zahlen waren entweder das Jahr, in dem sie ihren Abschluss gemacht hatten, oder das Jahr, in dem sie gestorben waren – es gab keine Gedenktafel, auf der eine Erklärung stand, aber was es bedeutete, war klar, wenn man die großen, in der Mitte des Kreises eingravierten Buchstaben las: PRO PATRIA. Das lernte man im ersten Jahr Latein, zum einen, weil es zum Grundwortschatz gehörte, zum anderen, weil die alten Römer ganz wild darauf gewesen waren, so zu sterben. Pro Patria, für das Vaterland. Und wenn das nicht gereicht hätte, wäre der Groschen spätestens beim Lesen der auf den Steinbänken eingravierten Namen gefallen. Es waren keine Personen, sondern Schlachtfelder: Normandie, Omaha Beach, Rheinüberquerung, Bastogne, Ardennen – offenbar hielten es die wohlhabenden Absolventen, die die Gedenkstätte finanziert hatten, für angebracht, dass Chapmans tapfere Tote bis in alle Ewigkeit im Kampf verharrten. Sic transit gloria.
    Die Grünfläche war nur dem Namen nach grün. An den Stellen, an denen sich keine stumpfbraune Fläche mit ein paar kläglichen, schmutzig grauen Schneeresten befand, schimmerte der Rasen in einem fahlen Gelb, wie Haare, die mit einem billigen Aufheller eingesprüht worden und dann mit Chlorwasser in Kontakt gekommen waren. Im Sommer konnten die paar Bäume am westlichen Rand des Campus noch als üppige Wildnis durchgehen, die die Unterrichtsgebäude von den kahlen Sportplätzen trennte, doch nach drei Monaten Schnee und Frost war kein Fitzelchen Grün mehr vorhanden. Im März sah diese Ecke von New England nicht gut aus. Mitten im Winter war Chapman ganz nett – ein ebenso verschneites Wunderland wie alle anderen auf pittoresk getrimmten Orte entlang des Highways –, doch der März war eine tote Zone aus vertrockneten Rasenflächen, Bäumen mit traurig hängenden Zweigen und schmelzenden Schneemännern. Selbst der Himmel gab für ein paar Wochen auf und ersetzte Farbe durch einen hartnäckigen grauen Gifthauch.
    Es war ruhig hier, so ruhig, dass ich hören konnte, wie Blätter unter einer Schuhsohle knirschten, direkt hinter mir. Ich zuckte zusammen und dachte, dass ich an meinem Zufluchtsort gleich Gesellschaft bekommen würde – und plötzlich hörte das Knirschen auf. Nein, das Geräusch kam nicht von einem Studenten, der verschlafen hatte und jetzt in den Unterricht trampelte, sondern von jemandem, der sich leise und vorsichtig heranschlich, der nach seinem lauten Fehltritt abrupt stehen geblieben war und hoffte, nicht bemerkt zu werden. Von jemandem, der mich beobachtete.
    Ich versuchte, mir einzureden, dass nichts passieren würde, wenn ich so tat, als wäre gar nichts, wenn ich so tat, als hätte ich nichts gehört, wenn ich nicht provozierte. Als Kind hatte ich mir immer Krisenpläne zurechtgelegt, für den Fall, dass ich es mit Einbrechern und Kidnappern zu tun bekam, und im Bett liegend geübt, mich schlafend zu stellen. Ich hing der Theorie an, dass, wenn ich harmlos genug aussah, die Horde marodierender Killer, die in meiner regen Fantasie an der gesamten Ostküste entlang durch die Fenster von Kinderzimmern in Häuser einstieg, mich nicht als Bedrohung auffassen und in Ruhe lassen würde, nachdem sie unser nicht vorhandenes Famliensilber in ihre Jutesäcke gestopft hatte. Aber inzwischen war ich erwachsen genug, um zu wissen, dass man leichtere Beute war, wenn man harmlos aussah. Ich drehte mich um.
    Der Baum war zu dünn, um ihn komplett zu verdecken. Er lugte hinter dem Stamm hervor, das Gesicht tief im Schatten

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