Das Buch der Gaben - Tommy Garcia ; Band 1
Auge. Es sah wunderschön aus. Das Ganze erinnerte mich an Afrika. Langsam wanderte mein Blick am anderen Ufer entlang. Vielleicht gab es da ja Tiere. Doch dann sah ich etwas völlig anderes, etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte.
»Ein Weg!«, rief ich überrascht, und die anderen neben mir zuckten zusammen.
»Ein Weg?« Tommy runzelte die Stirn. »Dann siehst du mehr als ich. Einen Weg habe ich nirgends entdeckt. Außerdem kann man das bei der Entfernung doch gar nicht sehen.«
»Das ist doch nicht weit«, sagte ich. »Die Bäume sind doch zum Greifen nah. Da ist ein Weg! So was wie ein breiter Pfad. Genau in der Mitte. Du brauchst nur geradeaus schauen.«
Mit diesen Worten reichte ich ihm das Glas, und als ich es abgesetzt hatte, konnte ich plötzlich auch ohne das Ding eine grüne Linie am Horizont sehen. Verblüfft stellte ich fest, dass sich sogar einzelne Bäume unterscheiden ließen. Ich sagte nichts, beobachtete aber verstohlen die anderen, ob sie das auch bemerken würden.
Im nächsten Moment schrie Janine auf und zeigte mit dem Arm zum Horizont.
»Die Bäume! Sie kommen näher!«
Tommy senkte das Fernglas und kniff die Augen zusammen.
»Wie ist das möglich?«, flüsterte er.
Wie angewurzelt standen wir nebeneinander im Ufersand und sahen zu, wie der jetzt dunkelgrüne Horizont auf uns zukam, ja er wuchs in unsere Richtung. Gebannt starrten wir auf die grüne Linie, die Sekunde für Sekunde größer wurde. Ich hatte ein unbändiges Verlangen, mich umzudrehen und zurückzurennen. Nur weg von hier. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dieser immer näher kommende gewaltige Wald den See aufstauen und eine riesige Flutwelle erzeugen würde, die uns alle zerschmettern oder – so heiß wie das Wasser war – verbrühen würde. Doch nur kleine dampfende Wellen schwappten ans Ufer. Ich schaute zu den Hunden. Jever und Lazy lagen im Sand. Müde vom Herumtoben und mit heraushängenden Zungen hechelten sie um die Wette. Die beiden hatten wahrlich keine Angst.
Gut, beschloss ich in Gedanken, dann hast du auch keine.
Inzwischen war die Front des Waldes bis auf wenige hundert Meter zu uns herangekommen. Gigantische Bäume ragten in den Himmel. Sie verflochten ihr Blattwerk so ineinander, dass wir nicht einmal einzelne Stämme erkennen konnten. Die Wipfel waren ungleichmäßig hoch, der eine oder andere Baum überragte die anderen noch.
»Ich hab Angst!«, sagte Sanne zitternd und griff Tommys Hand.
Tommy aber schien ruhig wie immer. Ich spürte einen riesigen Kloß im Hals.
»Das gleiche Phänomen wie vorhin, als der Raum weit unddann wieder enger wurde und die Berge auf uns zukamen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Die Berge sind dann stehen geblieben, und das werden die Bäume auch. Wirst sehen.«
Es war unglaublich. Es war schon lange kein riesiger See mehr, der da vor uns lag. Sein Umfang war auf die Größe eines kleinen Badesees geschrumpft. Schon vermutete ich, dass das Wasser ganz verschwinden und der Wald uns einfach so in sich aufnehmen würde.
Als das andere Ufer keine einhundert Meter von uns entfernt war und wir schon zu den Bäumen aufschauen mussten, so riesig wuchsen sie vor uns in den Himmel, kam der Waldwuchs zum Stillstand. Ehrfurchtsvoll standen wir da und versuchten, dieses Wunder auf uns wirken zu lassen.
»Sieht so aus, als sollen wir durch das Wasser«, sagte Tommy. »Wir müssen uns was ausdenken. Das Haus zeigt uns einen bestimmten Weg. Wir sollen hier durch, und wir müssen hier durch. Ein Zurück gibt es nicht.«
»Ach ja?«, fragte Janine ironisch. »Du willst durch einen kochenden See schwimmen?«
»Ja, ich weiß, dass das Blödsinn ist«, meinte Tommy hilflos. »Aber die glatten Felsen können wir nicht hochklettern, und zurückgehen macht auch keinen Sinn. Vielleicht müssen wir nur eine Weile warten, bis sich das Wasser abgekühlt hat.«
Ein, zwei Minuten vergingen, in denen wir schwiegen und nachdachten. Während wir noch unsicher dastanden und uns nicht rührten, passierte auf einmal etwas, was uns fast zu Todeerschreckte. Jever und Lazy hatten die ganze Zeit platt im Sand gelegen und um die Wette gehechelt. Doch nun sprang Jever plötzlich auf und rannte zum Ufer hinunter. Tommy brüllte seinem Hund hinterher. Doch Jever hörte nicht auf sein Herrchen, und ehe wir uns versahen, sprang er mit allen vier Beinen voran in das dampfende Wasser und begann, mit seiner rosa Zunge gierig das kochend heiße Wasser zu schlecken.
Stumm vor Schreck wartete
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