Das Buch der Gaben - Tommy Garcia ; Band 1
hinunter. Nicht einmal einen halben Meter trennten seine Füße vom tödlichen Abgrund. Langsam, um ihn nicht zu erschrecken, näherte ich mich ihm. Ich wollte möglichst nahe bei ihm sein, um ihn notfalls zurückzuhalten. Aber andererseits war es mir ganz und gar nicht geheuer, so dicht an den Rand zu kommen. Dann stand ich neben ihm und schaute wie er vorsichtig nach unten. Und auf einmal schoss mir ein Bild durch den Kopf. Ein Bild von diesem Ort!
Ja, ich kannte diese Stelle tatsächlich, obwohl ich selbst noch nie hier gewesen war. Aber ich hatte diese Klippe auf Fotos gesehen! Auf Fotos, die Tommy mir gezeigt hatte. Ich wusste, wo wir hier waren. Es war die Stelle, an der Tommys Vater immer von der Klippe gesprungen war. Die Stelle, an der Tommy bestimmt schon tausend Mal in Gedanken gewesen war und die ihn an den Mut seines Vaters erinnerte.
Was sollte ich jetzt tun? Was sollte ich sagen, um Tommy beizustehen? Ich wusste es nicht. Ich war ratlos. Doch ich musste irgendetwas sagen.
»Von hier aus ist dein Vater immer gesprungen, stimmt’s?«
Tommy nickte nur. Ich hatte das Gefühl, ich müsste unbedingt weiterreden.
»Hör mal, Tommy, das hier ist nicht Teneriffa. Dies ist eine fremde Welt! Tommy! Du brauchst uns auch nicht zu beweisen, wie mutig du bist! Das wissen wir doch alle! Bitte!«
Mit jedem Wort wurde ich unsicherer. Ich wollte unbedingt, dass Tommy vom Rand zurücktrat, und redete mich dabei um Kopf und Kragen. Ich wusste ja noch nicht mal, ob ich nicht vielleicht genau das Gegenteil erreichte. Tommy sah mich nicht an. Hörte er mich überhaupt?
»Tommy, bitte spring nicht! Bitte!«, flehte ich ihn an.
Ich schaute mich zu den Mädchen um. Sie begriffen nicht, was hier vor sich ging. Dann sah ich Tommy wieder an, er hatte die Augen geschlossen. Ich merkte, wie es in ihm arbeitete. Was mochte er jetzt denken? Seine Arme hingen schlaff an den Seiten herunter, und seine Füße standen wie zum Absprung bereit. Ich hatte eiskalte Hände. Und ich war hilflos. Würde ich ihn jetzt wegreißen, wäre damit nichts gewonnen. Vielleicht würde ich ihn sogar als Freund verlieren. Aber wenn er springen würde – auch. Ich konnte ihm nicht helfen. Nein! Er ganz allein musste diese Prüfung hier bestehen.
Eine halbe Ewigkeit standen wir so da, ich ließ Tommy in Ruhe. Doch dann endlich öffnete er seine Augen wieder. Sein Blick war jetzt klar, und sein Mund verzog sich zu einem unsicheren Lächeln.
»Ich werde nicht springen«, sagte er mit fester Stimme.Und mir fiel ein unglaublich großer Stein vom Herzen. »Nicht, bevor ich nicht weiß, was da unten im Wasser liegt. Ach Joe … «
»Ja?« Ich war gespannt, was jetzt kam.
»Hast du mal n Taschentuch?«
Und dann brachen wir in ein befreiendes Gelächter aus und machten erst mal ein paar Schritte vom Rand weg. Ich kramte mein letztes Papiertaschentuch raus und reichte es ihm.
»Ich hätte dich festgehalten!«, sagte ich.
»Ich weiß«, antwortete Tommy. Und als wir uns jetzt in die Augen sahen, wussten wir beide, dass unsere Freundschaft immer und ewig dauern würde. Ich hatte keine Ahnung, was aus meinem Leben einmal werden würde, aber jetzt und hier war ich mir sicher, dass ich immer einen Freund an meiner Seite haben würde. Und Tommy schien dasselbe zu denken.
»Komm, lass uns zu Janine und Sanne zurückgehen«, sagte Tommy. »Wenn der Weg für uns hier zu Ende ist, dann ist er es eben.«
»Wir werden schon noch irgendeinen Hinweis finden, wie es weitergeht«, ermutigte ich ihn.
Die Mädchen warteten bereits ungeduldig auf uns. Tommy schämte sich seiner Tränen nicht. Sanne und Janine nahmen ihn in den Arm und gaben ihm jede einen Kuß auf die Wange. Ich stand dabei und spürte eine unglaubliche Woge der Erleichterung durch meinen Körper hindurchfließen.Gott sei Dank, dachte ich und wollte mir gar nicht ausmalen, was wäre, wenn Tommy gesprungen wäre …
Ich schaute hinaus aufs tobende Meer. Was konnten wir jetzt tun? Wenn diese Stelle eine Art Prüfung für Tommy gewesen war, so schien sie jetzt beendet zu sein. Doch hatte er sie bestanden? Und wie würde es weitergehen?
DAS BUCH DER GABEN
J anine und Sanne hatten nicht die geringste Ahnung von dem Konflikt, der da in Tommy vor sich gegangen sein muss. Woher auch, an dem Tag, an dem er mir von seinem Vater erzählt hatte, waren wir ja allein in meinem Zimmer gewesen und die Mädchen nicht dabei! Ich hatte damals das Gefühl, dass Tommy die Geschichte seines Vaters auch noch nicht vielen
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