Das Buch der Gleichnisse
Schwarzweißfoto.
Es wurde vermutlich in den frühen dreißiger Jahren aufgenommen. Der Sohn zeigt ihm das Foto auf seinem Handy.
Er kennt das Bild sehr gut, es hängt in seinem Arbeitszimmer, an der Wand neben der ungespielten Geige, aber jetzt wird sein Sohn eifrig, beugt sich mit dem Handy in der Hand über den Restauranttisch.
Es ist das altbekannte Bild, das er auf dem Handydisplay sieht. Aber etwas stimmt nicht. Das gut siebzig Jahre alte Bild scheint plötzlich, unmerklich aber unbezweifelbar, Leben zu gewinnen, als würde eine Filmaufnahme des Gesichts gezeigt.
Es versetzt ihm einen Stoß in der Brust.
Der Mann auf dem Bild, sein toter Vater Elof, bewegt sich tatsächlich. Die Augen zwinkern langsam, beinahe schelmisch, und der Mund formt sich zu einem Lächeln. Es ist unheimlich. Es ist ganz offensichtlich, dass der Mann auf dem Bild lebt, oder richtiger gesagt, Leben angenommen hat . Was hast du gemacht, fragt er seinen Sohn, das sieht ja grässlich aus. Grässlich?, fragt der Sohn, warum? Jaa, sagt er, ein bisschen erschreckend ist es schon. Es sieht ja aus, als ob Elof etwas sagen wollte! Die Augen zwinkern ziemlich schelmisch, das Gesicht wird von einem neuen Ernst überzogen, dann bewegt sich der Mund wieder und formt ein Wort, was sagt er?
Was hast du gemacht, fragt er seinen Sohn. Das ist ganz einfach, das kann ich mit jedem Bild machen, ich kann es auch mit dir machen. So dass es aussieht, als ob du etwas sagtest. Wie er. Was sollte ich denn sagen? Na irgendwas. Was machst du übrigens zur Zeit?, fragt sein Sohn vorsichtig. Nichts Besonderes, schreibe ein wenig. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht. Prima, prima. Es sah nur ein bisschen erschreckend aus, sagt er ausweichend, während der Sohn sich am Tisch zurechtsetzt und sein Handy in die Tasche steckt, es sah aus, als ob Elof verzweifelt versuchte, sich verständlich zu machen! Ja, das ist ganz lustig, aber es ist nicht schwer. Soll ich nicht dasselbe mit einem Foto von dir machen? Mit noch deutlicheren Mundbewegungen, als ob du richtig etwas sagtest?
Nein. Lass es sein. Mir geht es prima.
Im Tagebuch der Mutter, das sie im März 1935 abgeschlossen hat, beschreibt sie in rätselhaften Wendungen das starke Gefühlsleben des Vaters. Liegt darin eine Erklärung? Aber nie, nie, dass er ein Bier getrunken hätte!
War er da selbst nur ein Pseudonym? Konnte man so leben, ein Leben auf den neun herausgerissenen Notizblockblättern seines Vaters aufbauen?
Gab es keine Erklärung?
Das Kind und seine Mutter hatten lange den gleichen Glauben. Dann glaubten sie unterschiedlich. Da ließ er sie in ihrem Glauben, der sehr stark war, aber bestimmt ein klein wenig hätte ins Wanken gebracht werden können, wenn er es versucht hätte. Sie würde sich dann geängstigt und Gebetsschmerzen gehabt haben.
Deshalb versuchte er nie, ihren Glauben ins Wanken zu bringen. Obwohl sie sich ja auch so stark veränderte, nachdenklich wurde. Er hatte es gemerkt, als sie sich über die Großkusine unterhielten, die verrückt geworden war.
Sie wurde gleichsam ein wenig weicher.
In ihrem letzten Jahr war die Mutter ansonsten ziemlich genügsam und behindert nach einigen Schlaganfällen, die sie zeitweilig hatten verstummen lassen; aber sie erholte sich, trainierte ihre Sprachfähigkeit und hielt im Gemeindehaus in Bureå eine selbst verfasste Rede unter dem Titel »Einige Erinnerungen aus meiner Zeit als Volksschullehrerin in Hjoggböle«. Er las später die mit der Hand niedergeschriebene Rede und war verblüfft.
Diese Deutlichkeit und Einfachheit. Konnte die von einer vom Schlag getroffenen Achtundachtzigjährigen am Ende trotz allem erreicht werden?
Wenn das so war, hatte er ja noch viele Jahre vor sich.
In den letzten dreißig Jahren hatten sie in religiösen Fragen keine Unstimmigkeiten.
Sie erklärte ihm, wie es war , und dass sie fest an den Erlöser Jesus Christus glaubte, und er nickte zustimmend. Sie nahm das als Zeichen dafür, dass er insgeheim erweckt, also eigentlich wiedererweckt worden war, und wurde froh. War sie froh, war er froh. Er war ja auch nicht mehr jung.
Sein Glaube war schon abgeblättert, als er neunzehn war, und wenn der Eiswind kam, war er ja sowieso allein, und dann half nichts. Auch wenn er jetzt vernünftig denken konnte, hatte er nur wenig Freude daran. Später wurde es ja unklarer, doch das war nach Island und nach dem Februar 1990. Dass er behauptete, mit Sicherheit vom Alkohol gerettet zu sein, war eine Sache. Aber die Fragen
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