Das Buch Der Hundert Vergnügungen
sitzen, einen Füllfederhalter in der Hand, und einen Bogen Ihres Briefpapiers mit handgedrucktem Namenszug hervorzuholen, die ersten zwei Worte »Lieber Freund« hinzuschreiben und dann innezuhalten, ehe Sie die Tinte auf das Papier fließen lassen mit der Erzählung Ihrer jüngst vergangenen Taten und Sorgen, den Bogen dann zusammenzufalten, ihn in einen Umschlag zu stecken und die Adresse draufzuschreiben, eine Briefmarke auf den Umschlag zu kleben, ihn in einen Briefkasten zu stecken und sich dann vorzustellen, welche Freude Ihr Brief machen wird, die ganz konkrete Freude am anderen Ende, wenn er mit den Händen geöffnet und gelesen wird – ah, ist das nicht wahre Glückseligkeit?
TH
EINEN LUFTSPRUNG MACHEN
Aus purer Freude daran, auf der Welt zu sein, drängt es Sie mitunter, in die Luft zu springen und Ihre Hacken zusammenzuschlagen wie einst die Akrobaten, Troubadoure und Jongleure. Einen Luftsprung zu machen ist eine absolut nutzlose Tat, zu der man sich gerade aus diesem Grund hinreißen lassen sollte.
TH
KASTANIEN
Allmählich weicht der Sommer einer frischen Brise und den kühlen Nebeln des Herbstes, die überall um uns herum braunes Laub verstreuen. Eine leichte Traurigkeit überkommt Sie, während Sie die Straße hinunterlaufen. Da plötzlich entdecken Sie eine stachelige grüne Rosskastanienfrucht auf dem Weg und heben sie auf. In Ihrer Hand lässt sie sich leicht öffnen, und im weißen Wachs der Innenschale kommt eine mahagonibraune Kastanie zum Vorschein. Sie fühlt sich kalt wie Marmor an. Binnen kurzem platzen Ihre Taschen aus allen Nähten, während eine Gruppe Kinder mit Mützen und Schals heranstürmt auf der Suche nach der vollkommenen Kastanie – derjenigen, die ihren Finder zum König des Spielplatzes macht und alle Mitbewerber mit einem »Plonk!« aus dem Feld wirft.
DK
EIN KARTENSPIEL
Angesichts von Nintendo Wii und DS, den Sony Playstations und all den zig anderen teuren Spielgeräten, die spätestens nach zwei Jahren unweigerlich auf dem Müll landen, tut man gut daran, sich eines ganz und gar nicht kostspieligen Wunderwerks zu erinnern: Das Kartenspiel ist ein Stück Unterhaltung, das man überallhin mitnehmen kann, das keine Batterien und auch keine andere Stromquelle benötigt und das nie abstürzt. Sie brauchen auch kein Zubehör dafür zu kaufen. Man kann damit tausend verschiedene Spiele spielen, von einfachen Kinderspielen bis hin zu raffinierten Spielen mit komplizierten Regeln für Erwachsene. Sie können Spiele für eine Person damit spielen und sich so die Zeit vertreiben, Sie können aber auch Kartentricks damit vollführen und andere begeistern und verblüffen. Das Kartenspiel an sich ist schon etwas Wunderschönes: Mit seinen Königen und Damen, Buben und Jokern erinnert es uns an eine höfische Welt aus vergangenen Zeiten, eine Welt der ritterlichen Tugenden und Turniere.
TH
IN ALTEN KIRCHEN HERUMWANDERN
Allen Bemühungen der Puritaner in den protestantischen Ländern zum Trotz, ihre Schätze zu plündern, gibt es in alten Kirchen immer noch manches Zauberhafte zu sehen und viele geheimnisvolle Geschichten zu entdecken. Holzschnitzereien legen Zeugnis ab vom Geschick der Holzschnitzer. Und denken Sie nur an die Geduld und die Kunstfertigkeit derjenigen, die die Lettern in die Grabsteine gemeißelt haben. An manchen Kirchen finden wir Kobolde und Wasserspeier mit schrecklichen Fratzen und überaus kunstvoll verzierte Taufbecken. Viele Kirchen sind – wunderbarerweise – nach wie vor unverschlossen und lassen sich deshalb zu jeder Tageszeit besuchen, Refugien vor dem Trubel der hupenden Welt dort draußen. Essen Sie Ihr Sandwich in der Mittagspause dort, halten Sie ein Nickerchen auf einer Kirchenbank oder sitzen Sie einfach da und schauen sich um, solange Sie Lust haben.
TH
SCHATTEN BEOBACHTEN
Im Schatten lauern finstere Gestalten. Uns wird gesagt, wir blieben im Schatten der anderen, wenn wir nicht so viel »leisten«, wie wir sollen. Dabei sind Schatten im Grunde etwas viel Bedeutsameres als bloß das Abbild einer physischen Gestalt. Schatten sind die Winkel unseres Geistes, in die das Licht der Vernunft nur selten eindringt. Sie sind Fenster zu einer anderen Welt. Die Welt der ewigen Finsternis, vor der sich die meisten von uns nur gar zu gern fürchten. Der chinesischen Han-Dynastie verdanken wir das Schattentheater. Als eine der Konkubinen des Kaisers Wu starb, war sein Schmerz über ihren Tod so gewaltig, dass er seinen Bediensteten befahl, sie von
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